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Die Karte Des Himmels

Die Karte Des Himmels

Titel: Die Karte Des Himmels
Autoren: Rachel Hore
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    In der Nacht, bevor alles anfängt, kehrt der Traum zurück.
    Sie hat sich verirrt, stolpert durch einen dunklen Wald und ruft nach ihrer Mutter. Immer wacht sie mittendrin auf, sodass sie nie erfährt, ob sie sie am Ende wiederfindet. Alles fühlt sich sehr real an. Sie spürt die lehmige Erde unter ihren Füßen, hört die Zweige knacken, auf die sie tritt, und riecht die satten Düfte des Waldes, die nachts immer am stärksten sind, wenn die Bäume atmen. Es ist kühl. Dorniges Gestrüpp verfängt sich in ihrem Haar. Voller Panik und Verzweiflung versucht sie sich zu ihrem Bewusstsein durchzukämpfen und tastet nach dem Lichtschalter. Dann liegt sie da und wartet darauf, dass ihr Schluchzen aufhört und sich ihr rasendes Herz beruhigt.
    Es ist der Albtraum, den sie als Kind hatte. Was ihn jetzt ausgelöst hat, kann sie nicht sagen. Seit sie Mark verloren hat, gab es viele schreckliche Nächte, aber nie hat dieser besondere Traum sie heimgesucht. Und jetzt, gerade als sie glaubt, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekommt, verhöhnt er ihre kläglichen Versuche und reißt sie in die Hilflosigkeit ihrer Kinderzeit zurück.
    Einmal hat sie eine Schulfreundin, die sich für Träume interessierte, gefragt, was ihr Traum bedeuten könnte.
    »Ein dichter Wald, sagst du? Hm.« Sophie zog ein Buch aus dem Regal und blätterte durch die Seiten, bis sie auf das stieß, was sie suchte. »›Geschäftliche Verluste, unglückliche Einflüsse im Haus und Familienstreitereien.‹ Klingelt da was bei dir?«, fragte sie und sah Jude hoffnungsvoll an.
    »Klingt wie ein Zeitschriftenhoroskop«, sagte Jude. »So was passt doch irgendwie immer. Erstens hab ich heute in der Drogerie zu wenig Wechselgeld rausbekommen, und zweitens kriselt es in meiner Familie ständig. Wie in jeder anderen auch.«
    »Obwohl deine Familie schon ziemlich merkwürdig ist«, meinte Sophie und klappte das Buch zu.
    »Nicht merkwürdiger als deine«, gab Jude zurück.
    Und doch – in den Wochen, nachdem ihr Traum zurückgekehrt ist, wird ihr mehr und mehr bewusst, dass Sophie nicht ganz unrecht hatte.

T EIL I

1. Kapitel
    Juni 2008
    Wie unscheinbar und zufällig die Ereignisse doch sind, die unser Schicksal bestimmen!
    Am nächsten Morgen auf dem Weg ins Büro hatte Jude ihren Traum fast vergessen. Als sie an der Greenwich Station auf die Bahn wartete, heulte plötzlich ein kleines Kind los, und sofort kehrte die Verzweiflung schemenhaft zurück, aber in der Bond Street war auch das schon wieder von anderen, alltäglichen Sorgen überdeckt. Jude ahnte nicht, dass bald etwas Wichtiges passieren würde, etwas, das an der Oberfläche ziemlich bedeutungslos war.
    Es war Freitag um die Mittagszeit in der Abteilung für Bücher und Manuskripte des Auktionshauses »Beecham’s« in Mayfair. Jude hatte den ganzen Vormittag am Bildschirm gesessen und seltene Erstausgaben von Dichtern aus dem achtzehnten Jahrhundert für einen bevorstehenden Verkauf katalogisiert. Das war eine mühsame Angelegenheit, denn es hieß, den Inhalt eines jeden schmalen Bändchens zu beschreiben, seinen Zustand und sämtliche Besonderheiten zu erfassen – eine handschriftliche Widmung zum Beispiel oder gekritzelte Randnotizen –, die das Interesse eines potenziellen Käufers wecken könnten. Ärgerlich, wenn dann jemand kam und sie in ihrer Konzentration störte.
    »Jude.« Inigo, dessen Schreibtisch in dem offenen Büro neben ihrem stand, kam herüber, einen unordentlichen Stapel Papier, der mit selbstklebenden Notizzetteln in allen Farben geschmückt war, in den Händen. »Die Korrekturfahnen vom Septemberkatalog. Wo soll ich sie hinlegen?«
    »Oh, danke«, murmelte sie, »gib her.« Sie ließ den Stapel auf den überquellenden Ablagekorb neben ihrem Computer fallen und fing an, den nächsten Satz zu tippen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, den Inigo allerdings ignorierte.
    »Ich denke wirklich, dass du dir die Bloomsbury-Seiten noch mal anschauen solltest«, sagte er in aufgeblasenem Ton. »Ich hab ein paar Punkte notiert, wenn du vielleicht ...?«
    »Inigo«, sagte sie und versuchte vergeblich, ihm auf höfliche Weise zu verstehen zu geben, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle. Die Erstausgaben der Bloomsbury Group gehörten zu ihrem Verantwortungsbereich, und sie musste ihm weder darüber noch über irgendetwas anderes Bericht erstatten. Nur dass ihn das keineswegs daran hinderte, sich einzumischen. »Können wir uns heute Nachmittag darüber unterhalten?
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