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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Selbstvertrauen war fehl am Platz. Annas kühle Zurückhaltung faszinierte und forderte ihn heraus. Sie blieb ein unerreichbares Ziel, ein verschwommenes Land, das er nur flüchtig gesehen, aber nie besessen hatte. Mich hingegen hatte er gründlich vermessen, erforscht und gefesselt - manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Hin und wieder packte Michael im Bett meine langen blonden Haare und benutzte sie als Zügel. Einmal band er mich damit in einem Hotel ans Bettgestell. Wir mussten eine winzige Schere zu Hilfe nehmen, die ich zusammen mit den Sticksachen in der Handtasche hatte, um mich loszuschneiden, so sehr hatte er die Knoten verheddert.
    Heute, vier Jahre später, fiel mir dieser Vorfall wieder ein: wie eine passende Metapher - ein Omen vielleicht - dafür, wie sich alles entwickelt hatte. Michael hatte mich erst in ein wildes Durcheinander verstrickt und dann einfach abgeschnitten. Ich war böse auf ihn, nein, wütend, musste jedoch zugeben, dass ich mindestens ebenso viel Schuld an der Situation trug wie er. Immerhin war Anna meine Freundin. Von Anfang an hatte ich mich für diese Beziehung und den Verrat an unserer Freundschaft geschämt. Doch Scham ist ein unangenehmes Gefühl, dem wir uns nicht gern stellen. Der Druck, den Anna in der Redaktion hatte, machte es leichter, als es sonst gewesen wäre, und ich verstand mich bestens darauf, allerlei Vorwände zu erfinden,
um den gefürchteten Treffen und Abendessen zu dritt aus dem Weg zu gehen. Der Gedanke, dass ich sie Tag für Tag, Stunde für Stunde hinterging, zerriss mich innerlich. Ich merkte, dass ich ihre Gegenwart nicht mehr ertrug. Sie wirkte so glücklich, dabei wusste ich, wie hohl und leer dieses Glück in Wahrheit war.
    Jetzt, da Michael und ich Schluss gemacht hatten, war ich mir nicht sicher, ob ich sie jemals wiedersehen wollte.
    Am Tag nach unserer Trennung verließ ich London, vom Weinen erschöpft, um eine Woche in den Klippen an der englischen Südküste zu wandern. Oft hätte ich mich am liebsten in die Tiefe gestürzt, brachte jedoch nicht den nötigen Mut auf. Das Handy hatte ich in meiner Wohnung in Putney zurückgelassen, um sicherzugehen, dass ich nicht schwach wurde und ihn anrief. Stattdessen begann ich eine neue Stickerei, die ich schon seit einigen Wochen im Kopf hatte, und stapfte mechanisch irgendwelche Fußpfade entlang, ohne die Schönheit der Landschaft auch nur wahrzunehmen.
    Das Muster war für einen Wandbehang gedacht und musste daher in steifes Leinentwill eingearbeitet werden, und zwar mit farbiger Wolle statt mit Seide. Seit der elisabethanischen und jakobinischen Epoche ist diese Art der Stickerei mit Wolle verbreitet. Unzählige bittere Stunden stickte ich still vor mich hin. Es war eine grausame Welt, ein grausames Schicksal, es war grausam, freundlich zu sein, grausam und fremd … ich könnte endlos so weitermachen, aber wozu? Ich hatte auf dem Stoff bereits ein verschlungenes, einfarbiges Muster von stilisierten Akanthusblättern eingezeichnet, unterbrochen von Farbtupfern, wo Blüten durch das Laubwerk lugten. Sehr traditionell, im Stil der flämischen Wandbehänge, die ich im Victoria & Albert Museum gesehen hatte, wobei die feine Ausfüllung des Blatt-Entwurfs von der filigranen Stickerei venezianischer Spitze inspiriert war. Es war ein großes Tuch und würde problemlos die Leere an meiner Schlafzimmerwand füllen, wo das schöne,
gerahmte Schwarzweißfoto von Michael gehangen hatte. Dieses hatte ich in einem feierlichen Ritual im Garten verbrannt, bevor ich die Wohnung verließ. Leider blieben die Umrisse des Rahmens geisterhaft auf der Wand sichtbar und würden mich ständig an seine Abwesenheit und auch die des Bildes erinnern.
    Jemand, der so unordentlich ist wie ich, sollte das Sticken lieber sein lassen, doch gerade die Präzision zieht mich an, die Illusion von Kontrolle, die sie einem schenkt. Wenn ich mich in ein neues Muster versenke, kann ich an nichts anderes denken. Schuld, Unglück, Sehnsucht - alles fliegt davon und lässt nur den schönen kleinen Mikrokosmos der Welt in meinen Händen zurück, das Blitzen der Nadel, die Regenbogenfarben der verschiedenen Fäden, die beruhigende Gewissenhaftigkeit der Disziplin. Der Wandbehang bewahrte mich in den Tagen nach der Trennung vor dem Wahnsinn.
    Eine Woche später kehrte ich einigermaßen wiederhergestellt nach London zurück. Mein Anrufbeantworter blinkte wie verrückt. Sie haben dreiundzwanzig neue Nachrichten , erklärte die digitale Stimme. Mein
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