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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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»Es tut mir so leid, Julia«, sagte er erneut. »Anna und ich stehen an einem entscheidenden Punkt unseres gemeinsamen Lebens und haben uns offen ausgesprochen. Wir wollen unserer Ehe noch eine Chance geben, noch einmal ganz von vorn anfangen. Ich kann mich nicht mehr mit dir treffen. Es ist vorbei.«
     
    In dieser Nacht lag ich zusammengerollt allein in meinem Bett, klammerte mich an das Buch, als wäre es die letzte Verbindung zwischen Michael und mir, und weinte mir die Augen aus. Am Ende übermannte mich die Erschöpfung, doch der Schlaf war beinahe noch schlimmer als das Wachsein. Ich hatte fürchterliche Träume. Um halb drei schreckte ich auf, um drei, um vier, mit Fetzen von Bildern im Kopf - Blut und verstreute Knochen, jemand, der vor Schmerzen schrie, Rufe in einer Sprache, die ich nicht verstand. Am intensivsten war eine Sequenz, in der ich nackt ausgezogen und vor lauter Fremden auf und ab geführt wurde. Sie lachten und wiesen sich gegenseitig auf meine zahlreichen Makel hin. Einer dieser Zuschauer war Michael. Er trug ein langes Gewand mit Kapuze, aber ich erkannte seine Stimme wieder, als er sagte: »Die hier hat keine Brüste. Warum habt ihr mir eine Frau ohne Brüste gebracht?« Schwitzend und beschämt wachte ich auf, ein
Geschöpf ohne jede Bedeutung, das selbst schuld an seinem Schicksal war.
    Doch während ich mich hasste, empfand ich zugleich eine verwirrende Distanz, als wäre nicht ich diejenige, die diese Erniedrigungen über sich ergehen lassen musste, sondern eine andere Julia Lovat, eine in weiter Ferne. Ich schlief wieder ein, und falls ich weiterhin träumte, so erinnerte ich mich nicht daran. Als ich schließlich endgültig aufwachte, lag ich auf dem Buch. Es hatte einen deutlichen Eindruck hinterlassen - vier Rillen, wie Narben, auf meinem Rücken.

ZWEI
    E s klingelte. Michael ging zum Fenster und spähte hinab. Auf der Straße unten stand ein Mann und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, als müsste er mal. Er trug einen alten Wollmantel von Crombie und eine Kordhose - viel zu warm für das Wetter. Aus seiner Vogelperspektive erkannte Michael zum ersten Mal, dass Stephens Kopf fast kahl war, bis auf ein paar dünne Strähnen, die er quer über den Kopf gekämmt hatte und die aussahen, als wären sie angeklatscht. In diesem Teil von Soho, wo junge Männer mit einem wissenden Lächeln in hautengen T-Shirts, zerrissenen Jeans oder Lederhosen auf und ab stolzierten und Touristen sich daran aufgeilten, ein, zwei Stunden in die Schwulenszene einzutauchen, wirkte er lächerlich fehl am Platz.
    Die Old Compton Street war nicht ganz so extravagant und lebendig gewesen, als Michael hier eingezogen war. Wenn er heute das junge Leben beobachtete, das draußen vorbeizog, kam er sich vor, als betrachtete er durch ein Fenster die Party eines Fremden und wäre zu alt und zu spießig, um eingeladen zu werden. Besonders jetzt, da er wieder auf den schmalen Pfad der Tugend zurückgekehrt war und den braven Ehemann spielte.
    »Stephen!«, rief er nach unten, und der Mann mit dem schütteren Haar hob den Kopf und schützte seine Augen vor der Sonne. »Hier!« Er warf seine Schlüssel aus dem Fenster. »Oberster Stock!«
    Nicht nur seine Schlüssel, dachte er mit schlechtem Gewissen, sondern auch Julias. Wahrscheinlich sollte er sie jetzt, da alles vorbei war, zurückgeben. Aber das kam ihm so … endgültig vor.
    Die Ankunft von Stephen Bywater unterbrach seine Gedanken.
    »Du hättest auch runter in den Laden kommen können«, sagte er vorwurfsvoll und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vier wacklige Treppen, und er war nicht mehr der Jüngste. »Schließlich ist Bloomsbury keine zehn Minuten entfernt.« Er kämpfte sich aus seinem Mantel, wie um sein Unbehagen zu unterstreichen.
    »Ich wollte nicht, dass irgendwer uns unterbricht«, sagte Michael rasch. »Du wirst gleich sehen, warum. Setz dich.«
    Er schob einen Stapel Zeitungen und Lehrbücher von dem fadenscheinigen Sofa, um Platz für seinen Gast zu schaffen. Stephen Bywater warf einen zweifelnden Blick auf den fleckigen Leinenbezug, als wollte er ihn seinem Hosenboden nicht zumuten, und nahm dann missmutig auf der Kante Platz. Seine knochigen Knie und Ellbogen standen nach allen Seiten ab wie bei einer Gottesanbeterin.
    »Es wird sich lohnen«, fuhr Michael aufgeregt fort. »Warte nur, bis du das siehst. Es ist ziemlich außergewöhnlich, ein echtes Juwel, einmalig. Aber genug der Worte. Hier, sieh es dir selbst an.«
    Aus
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