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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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weißen Leinen fest. Sofort lief die vertraute sexuelle Spannung durch meinen Arm und durchfuhr meinen ganzen Körper. Sein Blick war ernst: so ernst, dass ich am liebsten losgeprustet hätte. Er sah aus wie ein frecher Kobold, der im nächsten Augenblick ein abscheuliches Verbrechen beichten würde.
    »Ich glaube, wir sollten uns nicht mehr sehen«, sagte er, und sein Blick ruhte auf irgendeinem Punkt etwa fünf Zentimeter links von mir. »Jedenfalls für eine Weile.«

    So viel zum Thema Lerchen. Das Lachen, das sich aufgestaut hatte, brach aus mir heraus, schrill, als käme es von einer Wahnsinnigen. Mir war bewusst, dass die Leute uns anstarrten.
    »Wie bitte?«
    »Du bist noch jung«, fuhr er fort. »Wenn wir unsere Beziehung jetzt abbrechen, könntest du noch einen anderen Mann kennen lernen. Ein neues Leben anfangen. Eine Familie gründen.«
    Allein der Gedanke an Kinder war Michael zuwider: Dass er mir welche wünschte, zeigte deutlich, welche Distanz er zwischen uns aufbauen wollte.
    »Wir sind alle nicht mehr jung«, entgegnete ich. »Und am wenigsten du.« Ohne dass es ihm bewusst wurde, fuhr er mit der Hand zur Stirn, wo sich sein Haar lichtete. Er war eitel genug, sich darüber Gedanken zu machen. In den letzten Jahren hatte ich ihm versichert, dass es nicht auffiel, und als die Lüge allzu offensichtlich wurde, hatte ich gesagt, dass es ihn distinguiert und sexy machte.
    Der Kellner brachte die Teller. Wir aßen schweigend. Besser gesagt, Michael aß schweigend. Ich war hauptsächlich damit beschäftigt, in meinen Linguini mit Krebsfleisch herumzustochern und eine Menge Wein zu trinken.
    Schließlich wurden die Teller wieder abgeräumt und offenbarten die vage erkennbare Leere zwischen uns. Michael starrte auf die Tischdecke, als wäre dieses Vakuum eine Bedrohung, und dann wurde er plötzlich seltsam lebendig. »Ach übrigens, ich habe dir was mitgebracht«, sagte er, griff nach der Plastiktüte und warf einen Blick hinein. Ich erkannte zwei in Packpapier eingewickelte Objekte von fast gleicher Größe, als hätte er dasselbe Abschiedsgeschenk zweimal gekauft, für zwei verschiedene Frauen. Wer weiß.
    »Es ist nicht besonders schön eingepackt, fürchte ich. Ich hatte keine Zeit, es war ein bisschen chaotisch heute.« Er schob eins der beiden Objekte über den Tisch auf mich zu. »Aber es
kommt auf die Geste an. Es ist eine Art Memento mori und zugleich eine Entschuldigung«, sagte er mit seinem schrägen, sinnlichen Lächeln, mit dem er sich ganz zu Anfang in mein Herz gestohlen hatte. »Es tut mir leid, weißt du. All das tut mir leid.«
    Es gab vieles, was ihm leidtun müsste, aber ich war nicht stark genug, um es ihm zu sagen. Memento mori, eine Erinnerung an den Tod. Der Ausdruck wirbelte in meinem Kopf herum. Ich packte das Geschenk vorsichtig aus und spürte, wie mir die Krebsfleisch-und-Chili-Sauce hochkam.
    Es war ein Buch. Ein uraltes Buch mit einem Einband aus hellbraunem Kalbsleder, schlichten dekorativen Linien auf beiden Umschlagdeckeln und vier erhabenen, abgerundeten Bünden in gleichmäßigen Abständen auf dem Buchrücken. Meine Finger strichen ehrfürchtig über die Oberfläche, als wäre es die Haut eines anderen. Ich blendete alles Verletzende aus, was Michael sagte, und konzentrierte mich nur darauf, das Buch zu öffnen, vorsichtig, damit der spröde Rücken nicht brach. Das Titelblatt im Innern war fleckig und verblasst.
     
    Der Stolz der Stickerin stand da in fetten Lettern und dann, in zarter Kursivschrift:
    Es folgen gewiße feine Muster, angemeßen in Gold, Seide oder Wolle zu wirken, wie es Euch gefällt.
    Hier zum ersten Mal in einem Band veröffentlicht von Henry Ward, Cathedral Square, Exeter 1624.
    Und darunter, in runder, unsicherer Handschrift:
    Für meine Base Cat, am 27. Mai 1625
    »Oh«, rief ich, hingerissen von Alter und Schönheit des Buches. Ein kompliziertes Muster zog sich über die Rückseite. Ich hielt
es schräg ins Licht, in dem vergeblichen Versuch, es besser erkennen zu können.
    Michael hatte gerade etwas gesagt, doch was immer es gewesen war, es schwebte einfach über meinen Kopf hinweg.
    »Oh«, rief ich noch einmal. »Wie wunderschön.«
    Michael hatte aufgehört zu reden. Plötzlich wurde mir die Last seines Schweigens bewusst, ein Schweigen, das auf eine Reaktion wartete.
    »Hörst du mir überhaupt zu?«
    Ich blickte ihn wortlos an; ich wollte nicht antworten.
    Seine schwarzen Augen waren mit einem Mal beinahe braun. Mitleid stieg in ihnen auf.
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