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Im Schlauchboot durch die Unterwelt

Im Schlauchboot durch die Unterwelt

Titel: Im Schlauchboot durch die Unterwelt
Autoren: Stefan Wolf
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1. Albtraum bis zum Wahnsinn
    Sie war sieben Monate alt, 68
cm lang, 15 Pfund schwer und hatte einen wunden Po.
    Matilde betrachtete das Baby
mit einem Gemisch aus Zärtlichkeit und Angst. Susi lag auf dem Tisch,
strampelte und hatte sich noch nicht entschieden, ob jetzt Lachen oder Weinen
an der Reihe war. Durch die ausgebleichte Gardine des Fensters drangen die Strahlen
der Märzsonne. Susi wurde umhüllt von goldenem Licht wie von einem Kokon (Hülle
der Insektenpuppen).
    Doch dieser Augenblick im
Sonnenlicht war kein Symbol für Geborgenheit. Im Gegenteil: Susi war das 10 000
000-Euro-Baby. Öffentlichkeit und Presse stellten bereits Vermutungen an, ob es
überhaupt noch am Leben oder längst tot sei.
    Matilde hatte Susi gebadet,
geölt und in frische Windeln gewickelt. Jetzt noch einen Teller mit Brei — dann
würde Susi hoffentlich schlafen.
    Matilde horchte nach vorn, während
sie — das Baby im Arm — fütterte. Hatte die Eingangstür gebimmelt? Ein
Besucher? Nein. Stille.
    ERWINS PANOPTIKUM (Wachsfigurenschau) hatte zwar geöffnet, stand aber nicht auf der Hitliste für die Touristen der
TKKG-Stadt. Einheimische aus der Millionen-Metropole kamen ohnehin nur selten
her. Das kleine und seltsame Museum konnte seine Leute nicht ernähren, weshalb
Erwin Kräsch — Matildes Vater — in erster Linie drei Taxis laufen hatte. Das
brachte Vater und Tochter über die Runden.
    Noch ein Löffelchen und jetzt
das letzte. Susi machte ihr Bäuerchen, wurde in die ausgepolsterte Kiste
gelegt, die das Kinderbett ersetzte, und knabberte an ihrem Beißring.

    Sonderbar. Susi hatte sich
rasch an diese fremde Frau, an Matilde, gewöhnt. Vielleicht weil das Baby
instinktiv spürte: Von Matilde ging nichts Böses aus. Auch die junge Frau war
ein Opfer.
    Sie war 22. Als Opfer hatte sie
sich immer gesehen — als Opfer ihres harten, ja rohen und rücksichtslosen
Vaters. Sie besaß nicht die Kraft sich gegen ihn aufzulehnen. Er hätte es ihr
grausam vergolten. Matilde gehorchte — seit sie denken konnte — und im
Gehorchen war sie absolut zuverlässig.
    Seit dem Unfall als
Zwölfjährige war ihr linkes Bein verkürzt. Sie humpelte trotz orthopädischem
Schuh und gewaltigem Absatz. Ihr Weg als graue Maus schien vorgezeichnet: eine
blasse, fahl blonde junge Frau mit Sommersprossen und unsicherem Blick. Ihr
Blick war meistens nach innen gerichtet — auf ihre Träume. Nicht auf das, was
sie sich erträumte, wünschte — sondern auf ihre Albträume. Unter denen litt sie
— Nacht für Nacht — bis an den Rand des Wahnsinns.
    Matildes Aufgabe war das Museum:
ERWINS PANOPTIKUM
    Besucher einlassen, Eintritt
kassieren, eventuell führen und erklären, aufpassen, dass nichts beschädigt
wird, möglichst eine kleine Broschüre verkaufen, die von Kuriositäten (Merkwürdigkeiten) und deren Zurschaustellung handelte.
    Außerdem liefen hier die Anrufe
der Taxi-Stammkunden ein.
    Und jetzt kam hinzu, dass
Matilde das Baby betreuen musste.
    Sie wusste: Damit war sie
Mitwisserin. Damit war sie mitschuldig an einem schweren Verbrechen. Dennoch
konnte sie nichts dagegen tun.
    Susi schlief. Auf dem rosigen
Gesicht lag ein Lächeln. Sie war satt, hatte schon Wimpern und zwei Zähnchen.
Haare fehlten noch. Bis jetzt gab’s nur braunblonden Flaum.
    Am liebsten würde ich sie
behalten, dachte Matilde. Was unsinnig war. Sie würde sie hergeben müssen — für
Lösegeld, für das miese Geschäft, das da lief.
    Jetzt bimmelte die
Eingangsglocke.
    Noch einen Blick zu Susi. Dann
lief Ma tilde durch die beiden weitläufigen, düsteren Räume, die das Museum
ausmachten. Die Fenster waren abgedunkelt. So wirkten die Exponate (Ausstellungsstücke) besser. Etliche waren schon alt. Man sah ihnen an, dass sie ausgebessert waren.
Das älteste Stück war 180 Jahre alt — und jedes Jahr schien ein Fluch zu sein.
Und alle Verwünschungen schienen sich gegen Matilde zu richten.
    Sie schauderte. Für einen
Moment wurde die Panik übermächtig in ihr. Sie drehte den Kopf weg, um den
Aborigine (Ureinwohner Australiens) nicht sehen zu müssen, während sie
vorbeihastete.
    Der Aborigine war nicht aus
Wachs. Er war echt.
    An der Eingangstür standen zwei
Besucher, ein biederes Paar in mittleren Jahren. Offensichtlich aus tiefster
Provinz. Aber jetzt hier wegen Kultur. Und fest entschlossen, was zu erleben.
Am besten etwas, worüber sich berichten ließ — am Stammtisch und im
Kaffeekränzchen.
    »Haben Sie geöffnet?«, fragte
der dickliche Mann.
    »Ja. Bitte sehr!
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