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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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1 – Unfreundlicher Empfang
    Am höchsten hinauf, am weitesten kommt, wer mit der Natur verschmilzt, dachte André; das schlechte Wetter muss man sich zum Verbündeten machen.
    Regenschwerer Nebel hatte über Nacht das Tal gefüllt, klebte im Talgrund, hakte sich an Häuserecken, Dachvorsprüngen, Dachrinnen fest, erstickte das Bergdorf. Der Kirchturm und die Giebel der höheren Häuser waren im Nebel verschwunden, wie abgetrennt, nicht mehr Teil dieser Welt. Straße und Trottoir, aber auch der Felsen neben der Bäckerei lagen vom Nieselregen verfärbt. Von unten, dem Bahnhof her, nahte ein gelbes Fahrzeug, ein Postauto, fuhr halb leer vorbei, stach in den Nebel und versank.
    André und Louise hatten, auf das Drängen Louises hin, die soeben geöffnete Bäckerei betreten, wo Louise einen Kaffee und ein Croissant kaufte. Nun saßen sie draußen an einem kleinen, wackeligen Tisch auf zwei feuchten, mit den Ärmeln ihrer Regenjacken abgewischten Plastikstühlen, André ungeduldig mit dem Fuß wippend, Louise wie in Zeitlupe kauend. Statt mit einem Schluck Kaffee nachzuhelfen, versuchte sie mehrmals, das trockene Stück hinunterzuwürgen, bis es schließlich gelang. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schaute regungslos die Straße hinunter, als sehne sie sich nach dem Heimweg. Nicht einmal ihre Augenlider bewegte sie.
    » Nun? « , fragte André, als Aufforderung, sie möge den Kaffee trinken und den Rest des Croissants aufessen. Er wollte los. Je schneller sie die Nebeldecke unter sich hätten, desto besser. Louises Stimmung würde sich mit dem Tageslicht aufhellen; sie würde später von der Bergwanderung schwärmen.
    Er hatte in der Bäckerei nichts gekauft, als Zeichen, dass er mit dieser frühen Einkehr nach einem dreiminütigen Spaziergang durch das Dorf nicht einverstanden war. Er hätte nicht gewusst, was kaufen. Einen Kaffee brauchte er nicht, weckte einen das feuchte Wetter doch gut genug, zudem regte er die Verdauung an; ein heißer Tee war ebenso ungeeignet, wenn sie später nicht alle zehn Minuten eine Pinkelpause einlegen wollten; für Wasser gedachte er nicht so viel Geld auszugeben. Überhaupt: eben hatten sie im Hotel gefrühstückt, ausgiebig gegessen und getrunken. Man durfte den Aufbruch nicht wegen ein bisschen schlechten Wetters hinausschieben, musste los, sich hineinstürzen, einlaufen– nach einer oder zwei Stunden wanderte es sich wie von alleine. Man durfte nicht ständig stehen bleiben und Pause machen, so kam man nie in einen Trott. Nach jeder Stunde gab es fünf Minuten Pause und nach drei oder vier Stunden oder bei Erreichen eines Zwischenziels eine längere Rast– hatte er Louise gestern beim Abendessen in der Pizzeria noch einmal erklärt.
    Endlich nahm sie den Plastikbecher in die Hände; sie wärmte sie daran und trank zwei Schlucke. Sie griff nach dem erst halb aufgegessenen Croissant, konnte sich aber nicht entschließen, es vom Tisch aufzuheben.
    » Ich kann nicht mehr « , sagte sie und fasste sich an den Bauch.
    » Kein Wunder « , antwortete André, » du hast doch eben erst gefrühstückt– und wie! Wir haben gegessen, als würden wir die nächsten zwei Tage nichts mehr kriegen. «
    Louise tat einen langen Atemzug, legte die Hand auf den Magen und sagte, sie fühle sich nicht wohl, leichte Magenkrämpfe. Wieder verfiel sie in eine Starre und schaute die Straße hinunter.
    Von dort, vom Bahnhof her, glaubte André den Bach zu hören, der jetzt, im Frühling, aufgrund der Schneeschmelze viel Wasser führte. Es musste schönes und warmes Wetter werden– wenn sie erst über dem Nebelmeer wanderten!
    » Gib mal Händchen « , sagte Louise und legte die Hand mit der Innenfläche nach oben auf den Tisch.
    Er tat, was sie forderte; widerwillig, aber er tat es.
    Manchmal wolle man im Urlaub einfach an Ort und Stelle bleiben, sagte sie.
    Er schwieg, als hätte er diesen Satz nicht gehört.
    » Wir könnten heute Nachmittag losgehen. Vielleicht ist das Wetter dann besser. Oder morgen früh? «
    » Louise « , sagte er und zog seine Hand zurück, » wir haben die Wanderung seit Monaten geplant. Wir brauchen fünf Tage, fünf volle Tage. Wenn wir jetzt nicht losgehen, können wir sie nicht machen. «
    Er hatte die Bergwanderung im Dezember des vergangenen Jahres herausgesucht, im Internet recherchiert, Louise Bilder gezeigt, zwei Landkarten und einen neuen Kompass gekauft, und im Winter waren sie vermehrt auf Wanderungen im Berliner Umland und auf der Mecklenburgischen Seenplatte
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