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Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Angelfall: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Susan Ee
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    Auch we nn es ironisch klingt: Seit den Angriffen sind die Sonnenuntergänge herrlich. Vor dem Fenster unseres Wohn gebäudes lodert der Himmel in kräftigem Orange, Rot und Lila wie eine aufgebrochene Mango. Die Wolken flammen in den Farben des Sonnenuntergangs auf, und fast habe ich Bedenken, diejenigen von uns, die unter ihnen gefangen sind, könnten ebenfalls Feuer fangen.
    Die Wärme auf meinem Gesicht schwindet allmählich, und ich versuche, an nichts anderes zu denken als daran, meine Hände vom Zittern abzuhalten, während ich den Reißverschluss des Rucksacks schließe.
    Ich ziehe meine Lieblingsstiefel an. Früher mochte ich sie, weil Misty Johnson mir ihretwegen mal ein Kompliment gemacht hat. Es würde super aussehen, wie die Lederriemen leiterartig an den Seiten herabliefen. Misty ist – war – ein Cheerleader und bekannt für ihren ausgesuchten Modegeschmack. Also dachte ich, die Stiefel seien ein Mode-Statement, auch wenn sie von einer Firma für seriöse Wanderbekleidung hergestellt wurden. Jetzt mag ich sie, weil die Riemen eine ausgezeichnete Messerhalterung abgeben.
    Ich schiebe noch ein geschärftes Steakmesser in die Tasche an Paiges Rollstuhl. Nach kurzem Zögern bringe ich ein weiteres in Moms Einkaufswagen im Wohnzimmer unter. Ich lasse es zwischen einen Stapel Bibeln und einen Haufen leerer Wasserflaschen gleiten. Als sie nicht hinschaut, breite ich ein paar Kleider darüber aus und hoffe, sie wird nie erfahren müssen, dass es sich dort befindet.
    Bevor es vollständig dunkel wird, rolle ich Paige durch den Korridor zu den Treppen. Da sie lieber einen gewöhnlichen Rollstuhl wollte als einen elektrischen, kann sie sich selbst fortbewegen. Doch ich merke, dass sie sich sicherer fühlt, wenn ich sie schiebe. Der Fahrstuhl ist inzwischen völlig nutzlos, es sei denn, man möchte es riskieren, stecken zu bleiben, wenn, wie so oft, der Strom ausfällt.
    Ich helfe Paige beim Aufstehen und trage sie auf dem Rücken, während unsere Mutter den Rollstuhl die Treppe hinunterbugsiert. Es gefällt mir nicht, wie knochig sich meine Schwester anfühlt. Sogar für eine Siebenjährige ist sie inzwischen viel zu leicht, und das ängstigt mich mehr als alles andere zusammen.
    Nachdem wir in der Empfangshalle angekommen sind, hieve ich Paige zurück in den Stuhl. Ich streiche ihr eine Strähne ihres dunklen Haars hinters Ohr. Mit ihren hohen Wangenknochen und den mitternachtsblauen Augen könnte sie fast mein Zwilling sein. Ihr Gesicht ist feenhafter als meins, doch noch zehn Jahre und sie wird genauso aussehen wie ich. Trotzdem würde uns nie jemand verwechseln, selbst wenn wir beide siebzehn Jahre alt wären, genauso wenig wie man weich und hart oder warm und kalt verwechselt. So sehr sie sich auch ängstigt, ihre nach oben gezogenen Mundwinkel lassen sogar jetzt die Andeutung eines Lächelns erkennen. Sie macht sich mehr Sorgen um mich als um sich selbst. Ich lächle zurück und versuche, Zuversicht auszustrahlen.
    Wieder eile ich die Treppe hinauf, um Mom dabei zu helfen, ihren Einkaufswagen nach unten zu befördern. Wir kämpfen mit dem unförmigen Ding, und während der Wagen mit uns die Treppe hinunterschwankt, macht er alle möglichen scheppernden Geräusche. Zum ersten Mal bin ich froh, dass niemand mehr in dem Gebäude ist, der es hören könnte. Der Wagen ist randvoll mit leeren Flaschen, Paiges Babydecken, Zeitschriftenstapeln, Bibeln und mit sämtlichen Shirts, die Dad nach seinem Auszug im Schrank gelassen hat. Und – natürlich – befinden sich auch die Kartons mit ihren kostbaren faulen Eiern darin, die sie zusätzlich noch in jede Tasche ihres Sweaters und ihrer Jacke gestopft hat.
    Kurz ziehe ich in Erwägung, den Einkaufswagen einfach stehen zu lassen, doch der Streit mit meiner Mutter würde sehr viel länger dauern und sehr viel lauter ausfallen, als wenn ich ihr einfach helfe. Ich hoffe nur, dass mit Paige alles in Ordnung ist, während ich damit beschäftigt bin, den Wagen nach unten zu befördern. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich den Wagen nicht zuerst runtergebracht habe. Oben wäre es für Paige relativ sicher gewesen, sicherer zumindest, als in der Lobby auf uns zu warten.
    Als wir endlich den Gebäudeeingang erreichen, schwitze ich und bin mit den Nerven am Ende.
    »Denk dran«, sage ich. »Egal was passiert, renn einfach weiter den Camino entlang, bis du Page Mill erreichst. Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns oben auf den Hügeln, okay?«
    Wenn wir uns verlieren,
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