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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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BEKLEMMUNG
    Verstörende Beklemmung dürfte die richtige Bezeichnung für das Gefühl sein, das ich in diesem unglaublich heißen Sommer 1986 empfunden hatte, in dem die Luft vor Hitze flirrte und Noni tötete. Damals war ich ein siebenjähriger Junge, der nicht mit Worten umgehen und keine korrekte Beschreibung für seine Empfindungen artikulieren konnte. Rückblickend jedoch passt verstörende Beklemmung .
    Ich wuchs auf dem Bauernhof meines Onkels auf, in einem von allen guten Geistern verlassenem Tal, das kein Tourist je sehen sollte. Was aus meinen Eltern geworden war, habe ich nie erfahren.
    Das Tal zu beschreiben ist schwer. Es lag in einer tiefen Senke und es bedurfte gewisser Anstrengung, sowohl hinein als auch herauszukommen. Nie verirrte sich ein Fremder dorthin bis zu dem Tag, an dem Noni kam. Nur acht Höfe gab es, die über Generationen von denselben Familien bewirtschaftet wurden. Das Tal war grün und bestand fast nur aus Wiesen, Feldern und Bäumen. Asphaltierte Straßen gab es nicht. Wir hatten auch keine Autos. Die einzigen motorisierten Gefährte waren Traktoren und Mähdrescher. Bewegte man sich von einem Ende des Tals zum anderen, dann zu Pferd. Es klingt unglaubwürdig, dass es das 1986 noch gab, aber ich war dort. Sie mögen ein romantisches Bild haben – vergessen Sie es. Sie haben es nicht gesehen. Es herrschte immer eine ungute Atmosphäre, ein schlechtes Karma, wie man heute sagt. Die Luft war dicker als anderswo, das können Sie wörtlich nehmen. Es war anstrengend, sie zu atmen. Das Grün der Wiesen und Bäume war nicht romantisch. Es war ein verstörendes Grün. Ein beklemmendes Grün. Als Noni sich in unser Tal verirrte, falls es nicht Absicht war, konnte mich nicht mehr viel erschrecken. Ich hatte in jenem Sommer das Böse sowohl in seiner subtilsten Form gesehen als auch von jeglicher Subtilität befreit.
    Mein Onkel war ein Säufer und Raufbold. Zwei Mal in der Woche kehrte er beim Turger-Bauern ein, der eine Schankstube betrieb. Dort besoff er sich, schlug sich mit dem Welter-Bauern, unserem Nachbarn, unterlag ihm meist und wankte dann zornentbrannt nach Hause. Meist suchte er dann nach irgendwas, das ich falsch gemacht hatte, und warf mich aus dem Bett, um mich mit seinem schweren Mahagoni-Stock grün und blau zu prügeln.
    Tagsüber schuftete ich von morgens bis abends auf dem Hof. Bummelei duldete mein Onkel nicht und bestrafte sie hart mit eben demselben Stock, den ich in seinen durchzechten Nächten zu spüren bekam. Ich kann mich nicht erinnern, in jener Zeit meinen Körper jemals ohne blaue Flecken und Blutergüsse gesehen zu haben. Eine Schule besuchte ich nicht. Mein Onkel hielt es für unnötig und staatliche Kontrolle gab es nicht. Wie gesagt, verirrte sich so gut wie nie jemand zu uns.
    Nie stellte ein Nachbar meinen Onkel wegen der Prügel zur Rede. Er tat nichts, was nicht salonfähig gewesen wäre in unserer Nachbarschaft. Die meisten Bauern dort schlugen ihre Frauen und, wenn sie welche hatten, ihre Kinder. Von den Knechten und Dienstmägden, die bei unseren Nachbarn arbeiteten – mein Onkel hatte keine – ganz zu schweigen. Es gab niemanden, der uns vorschrieb, wie wir zu leben hatten. Nie werde ich die Schreie der Magd des Danner-Bauern vergessen, als er diese vor versammelter Hofmannschaft mit einem Ochsenschwanz auspeitschte. Was das Mädchen angestellt hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls hat sie danach nie wieder gesprochen. Auch die großen Blutflecken, die sie auf dem staubigen Hof hinterlassen hatte, verblassten nie völlig.
    Am Schlimmsten von allen jedoch trieb es der Welter. Seine Frau erwischte es meistens kurz nach mir, wenn er vom Saufen heimkam. Was er noch nicht an meinem Onkel abreagiert hatte, bekam seine Frau ab. Eines Nachts sah ich von meinem Fenster aus, dass er sie mit einem Stock direkt auf den Kopf schlug, sogar noch, als sie schon am Boden lag. Es war auch kein gewöhnlicher Stock, sondern so ein dicker, wie ihn die Amerikaner bei dem Spiel mit den kleinen Bällen benutzen. In dieser Nacht hat die Welterin nicht mehr so viel geschrien wie sonst.
    Später begegnete ich dem Welter in seinem Garten. Ich konnte nicht schlafen, weil mir noch alles weh tat. Er buddelte mitten in der Nacht ein Loch und warf einen Sack hinein, danach schaufelte er es wieder fein säuberlich zu. Er merkte, dass der Stock, mit dem er seine Frau geschlagen hatte, noch da lag und fluchte. Scheinbar hatte er den auch vergraben wollen.
    Plötzlich sah er mich, obwohl
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