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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
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Prolog
    In der Abenddämmerung, als die Sterne einer nach dem anderen in den gefrorenen Himmel stiegen, näherte sich Usuguk dem Schneehaus so leise wie ein Fuchs. Am Morgen war frischer Schnee gefallen, und der Dorfälteste starrte hinaus über die grau-weiße arktische Ödnis, die sich endlos in alle Richtungen erstreckte bis hin zu einem bleichen, eisigen Horizont. Hier und da ragten Stücke von dunklem Permaeis aus der Schneedecke wie die Knochen prähistorischer Tiere. Der Wind wurde stärker und zerrte am Fell seiner Parkakapuze, und Eiskristalle brannten auf seinen Wangen. Ringsum stand eine Ansammlung kleinerer Iglus, unbeleuchtet und dunkel wie Gräber.
    Usuguk schenkte alldem keine Aufmerksamkeit. Er spürte nichts außer dem rasenden Hämmern in seiner Brust und einer überwältigenden Angst.
    Als er das Schneehaus betrat, blickte die kleine Gruppe von Frauen, die sich um das Moosfeuer drängten, zu ihm auf. In ihren Gesichtern stand Anspannung und Sorge.
    «Moktok e inkarrtok»
, sagte er. «Es ist Zeit.»
    Wortlos und mit zitternden Händen sammelten sie ihre wenigen Habseligkeiten ein. Sie legten Knochennadeln in Kästchen zurück und schoben Fellschaber und Flensmesser –
Ulus
– in ihre Parkas. Eine der Frauen, die auf Robbenfellstiefelngekaut hatte, um sie weich zu machen, bündelte die Stiefel sorgfältig und wickelte sie in ein fadenscheiniges Tuch. Dann erhoben sich alle nacheinander und schlüpften durch die roh behauene Öffnung, die als Eingang diente. Nulathe begab sich als Letzte hinaus. Sie hielt den Kopf gebeugt vor Angst und Scham.
    Usuguk wartete, bis das Karibufell wieder über die Öffnung gefallen war und den Blick nach draußen versperrte: das einsame Wirrwarr von Iglus, die trostlose eisige Landschaft, die sich über den gefrorenen See in Richtung der untergehenden Sonne erstreckte. Einen Augenblick lang stand er nur da. Er versuchte, die Beklemmung zu vertreiben, die sich auf ihn herabgesenkt hatte wie ein schwerer Umhang.
    Dann wandte er sich ab. Es gab viel zu tun – und er hatte nur wenig Zeit.
    Der Schamane bewegte sich behutsam in den hinteren Teil des Schneehauses, wo er eine Decke von einem kleinen Haufen Felle zog. Darunter kam eine Schachtel aus poliertem schwarzem Holz zum Vorschein. Vorsichtig nahm er sie in die Hand und stellte sie vor das Feuer. Als Nächstes zog er einen zeremoniellen, mit ritueller Sorgfalt zusammengelegten
Amauti
zwischen den Fellen hervor. Er streifte den Kapuzenparka über den Kopf, legte ihn zur Seite und zog den Amauti unter leisem Klimpern der kunstvollen Perlenbehänge an, bevor er sich im Schneidersitz vor der Schachtel niederließ.
    Er saß eine Minute lang da und streichelte das Holz mit seinen alten, im Kampf gegen eine feindselige Umwelt krumm gewordenen Fingern. Dann öffnete er das Kästchen, entnahm ihm einen der Gegenstände, drehte ihn in den Händen und spürte seine Macht, lauschte, ob er ihm etwas zu erzählen hatte, um ihn anschließend wieder zurückzulegen. Das tater der Reihe nach mit allen Objekten aus dem Kästchen. Er spürte die Angst in sich. Sie ruhte tief und schwer in seinem Innern wie unverdauter Tran. Er wusste nur allzu genau, was dieses Ding, das sie gesehen hatten, dieses grauenvolle Omen, zu bedeuten hatte. Es war erst ein einziges Mal vorher geschehen in der
lebendigen Erinnerung
des Volkes, vor vielen, vielen Generationen, obwohl das Geschehen, vor dem wärmenden Feuer im Schneehaus weitererzählt von Vater zu Sohn, so unheilvoll klang, als hätte es sich erst gestern ereignet.
    Und doch – diesmal schien es in einem beängstigenden Missverhältnis zu stehen zu dem geringfügigen Vergehen, das es hervorgerufen hatte …
    Der Schamane atmete tief durch. Sie alle vertrauten darauf, dass er den Frieden wiederherstellen und die natürliche Ordnung der Dinge wieder ins Gleichgewicht rücken würde. Doch es war eine erdrückende Aufgabe. Das Volk war inzwischen so geschrumpft, dass nur eine Handvoll von den Seinen übrig gewesen war, um ihn in das geheime Wissen der Vorfahren einzuweihen. Und selbst sie waren jetzt gegangen, übergetreten in die Geisterwelt. Er war der Einzige, der noch übrig war vom geheimen Orden der Natur.
    Er griff unter den
Amauti
und zog eine Handvoll getrockneter Kräuter und Pflanzenteile hervor, die sorgfältig mit Fasern von arktischem Springkraut zusammengebunden waren. Er nahm das Büschel in beide Hände, hob es hoch und legte es auf das Feuer. Wolken aus grauem Qualm stiegen auf und
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