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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer
Autoren: Alexandra Kui
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Prolog
    Nichts ist ohne Glanz am Ende des Tages, wenn das Meer die Sonne verschlingt. Was im gleißenden Licht des Tages abstoßend war - die skrupellos geröstete Haut der Touristen, die verbleichenden Fassaden der Hotels, die Armada der Strandkörbe und sogar die schaufenstergroßen Verbotsschilder der Kurverwaltung, die jedes aufkommende Gefühl von Grenzenlosigkeit verhöhnen -, all das verliert sich in einem sanften Schimmer aus Pastelltönen. Täglich staunten wir über die Schönheit des Sonnenuntergangs an heißen Sommertagen, da unterschieden wir uns nicht von den Feriengästen. Wir liebten die Schlieren von Rosa am Himmel, die sich in den feuchten Wattflächen spiegelten, das mattsilberne Blau der Nordsee und das flirrende Aufeinandertreffen von Feuer und Wasser am Horizont. An vielen Orten werden in der Dämmerung die Konturen schärfer, an der Elbmündung bei Ebbe lassen sie nach.
    Hast du einen Blick dafür gehabt, als du an jenem Abend ins Watt gefahren bist - wie unzählige Male zuvor? Oder hattest du nur dein Vorhaben im Kopf, das Leuchtmittel an einer der Bojen auszutauschen, die das Versuchsgelände der Austernzucht markierten? Hat die Sonne geschienen? Mit Sicherheit hat sie, dieserSommer gönnt sich kein frühes Ende, weshalb er schon zum Vorboten des nahenden Weltuntergangs ausgerufen wurde - keine schlechte Prognose, zumindest was die Familie betrifft. Aber das konntest du zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich sehe dich in dem alten Jeep über den mit Sand durchsetzten Schlick rumpeln, du bist schnell unterwegs, das warme Wasser in den Prielen spritzt, Tropfen schlagen dir ins Gesicht, aber das stört dich nicht. Der Weg ist weit.
    Es kostet mich Kraft, aber keine Mühe, dich vor mir zu sehen. Vielmehr ist es unmöglich, mich abzuwenden, nicht hinzusehen, wie du eine Vollbremsung machst, aus dem Auto springst und dir die Schlammspritzer von der Stirn reibst. Dein sandblondes Haar könnte mal wieder einen Schnitt vertragen, aber das ist dir nicht wichtig. Du hast diese nachlässige Art, unwiderstehlich auszusehen, die sich die Markenjeansträger in den Großstädten so gern aneignen würden, was ihnen mangels Nachlässigkeit nie gelingen wird.
    Ich schweife ab. Du bist also ausgestiegen, stapfst barfuß durch das blausilbern schimmernde Watt auf das künstlich angelegte Riff aus Tonziegeln zu, auf dem die Austern ums Überleben kämpfen. Mit konzentriertem Blick pflückst du eine ab und überprüfst ihren Wuchs. Das Licht der untergehenden Sonne lässt dich die Augen zusammenkneifen. Was du siehst, überzeugt dich nicht. Niemand hielt etwas von Paul Fleckers Vorhaben, den Reichtum der Familie durch Austernzucht zu mehren. »Bootsbauer sind doch keine Muschelzüchter«, hast du gesagt. Aber noch ist der Vater derjenige, der die Entscheidungen trifft, und du akzeptierst seinen Führungsanspruch aus Liebe und aus Respekt vor seinem erstaunlichen Lebenswerk.
    Ich habe mich schon wieder ablenken lassen.
    Du brauchst kaum Werkzeug, um das Leuchtmittel - genauer gesagt, den Akku - zu erneuern, der das Blinklicht in der Bojemit Strom versorgt. Nur einen Spezialschlüssel zum Öffnen der Inspektionsluke. Und kräftige Finger.
    Der Bewegungsablauf ist Routine, die einzelnen Handgriffe erfordern wenig Aufmerksamkeit, was dir die Möglichkeit gibt, dich dem Sonnenuntergang zuzuwenden - für ein paar gestohlene Sekunden.
    Hast du an die Sommerabende deiner Kindheit gedacht? Vielleicht hast du dich daran erinnert, wie du dir am Zeitungskiosk wässriges Erdbeereis am Stiel gekauft und dich damit auf die kniehohe Mauer am Strand gesetzt hast. Das Eiswasser tropfte auf deine braungebrannten Beine und hinterließ giftrote Flecken im warmen Sand.
    »Blutspur«, hast du gewitzelt.
    Das fand niemand komisch.
    Als deine Hand in der Inspektionsluke verschwunden ist, stoßen deine Finger gegen einen Widerstand, der früher nicht da war, und in der gleichen Sekunde spürst du einen Schmerz wie nach einem Biss oder einem Stich, nur viel heftiger. Du denkst an die messerscharfen Scheren eines Krebses. Was sollte es sonst sein, dort draußen im Watt?
    Der Schmerz fährt durch die Glieder, dir bricht der Schweiß aus, aber als du nachsehen willst, was passiert ist, stellst du fest, dass deine Hand gefangen ist. Sie lässt sich keinen Millimeter weit bewegen, nicht vor und nicht zurück. Du bist verwirrt, musst womöglich sogar lachen. Die Inspektionsluke ist zu eng, um die zweite Hand zur Hilfe zu nehmen.
    In deinen
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