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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer
Autoren: Alexandra Kui
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Hafenarbeiter, die sich die Hände an den Hosenbeinen abwischen, bevor sie sie Janne entgegenstrecken. Sie sind viel zu gehemmt, um ihr in die Augen zu sehen.
    Johnny Ritscher stellt ein Bier vor Janne ab. »Es ist eine Schande«, sagt er.
    Die Shantychormitglieder erheben ihre Stimmen, und dieHorde beschwipster Touristen verwandelt sich in einen sonoren Klangkörper. Sie singen: »Junge, komm bald wieder.« Janne trinkt mit geschlossenen Augen.
    »Aber glaub mir, Mädchen, wir kriegen das Schwein, und dann machen wir es fertig«, sagt Johnny Ritscher.
    Janne versteht nicht, wovon er redet. Mit zittriger Hand stellt sie das Bier ab. Ihr Puls beschleunigt, als ihre Gedanken um die Worte des Wirtes taumeln, die für sie keinen Sinn ergeben.
    »Ach was, das war doch seine Kleine«, sagt einer der Hafenarbeiter.
    »Was soll das heißen?«, fragt Janne. Ihre Zunge fühlt sich schwer an.
    Die Männer tauschen unheilvolle Blicke aus. Johnny Ritscher geht zu einem der Tische im hinteren Teil des Lokals, um eine Bestellung aufzunehmen.
    »Ich habe dich etwas gefragt, Johnny«, ruft Janne.
    Der Shantychor hat sein Lied beendet.
    »Geh nach Hause zu deiner Familie, Mädchen«, sagt der Wirt und wendet sich den Gästen zu. Janne starrt durch den Zigarettenqualm hindurch auf seinen breiten Rücken. Johnny Ritschers Kneipe ist eine Institution. Als Kinder sind sie oft zwischen Barhockern und Tischen herumgetobt, wenn ihr Vater sie sonntags mitgenommen und jedem eine Cola spendiert hat. Damals war Johnny ein begehrter Junggeselle, aber es gab in der Gegend keine Frau, die ihn für sich gewinnen konnte. Er ist ein Nachtmensch ohne jeden Familiensinn. Es heißt, niemand habe Johnny je außerhalb seiner Kneipe gesehen. Längst ist sein Charme zusammen mit dem Inventar vergilbt. Gelegentlich erweckt er den Anschein, seine Gäste zu hassen.
    Janne lässt das Bier stehen. Als sie sich in der Mitte des Lokals erneut durch die Sängerschar zwängt, prallt sie gegen ihren Vater. Paul Flecker steht da wie ein Baum, als hätte er seit einer Ewigkeitdarauf gewartet, sie an dieser Stelle abzufangen. Der Zusammenstoß mündet in eine Umarmung. Die Chorsänger gehen auf Abstand.
    »Janne ... endlich«, sagt er.
    Sie legt den Kopf an seine Brust, und er streicht ihr über das Haar. Sie hört, wie sein Herz hämmert. Dann löst sie sich von ihm. »Entschuldige. Ich war zu feige, nach Hause zu kommen.«
    Er nickt, als hätte er von ihr nichts anderes erwartet. »Gehen wir ein paar Schritte«, schlägt er vor.
     
    Es ist schwül. Sie passieren die Liegeplätze der Helgolandfähre MS Funny Girl und der Ausflugsdampfer, die Fahrten zu den Seehundbänken anbieten. Dieser Abschnitt des Hafens ist sehr touristisch. Souvenirläden und Restaurants haben sich vis-à-vis vom Kai angesiedelt, ein aufpoliertes maritimes Idyll, Neubauten aus Glas und rostfreiem Stahl, eine andere Welt als die Gegend um den Fischereihafen, wo Janne und ihre Brüder als Kinder gespielt haben.
    Sie gehen langsam. Der Kai ist belebt, Janne und ihr Vater dümpeln in einem Strom sonnengebräunter Passanten. Gelächter, Stimmengewirr, erholte Gesichter. Eriks Tod passt nicht hierher.
    Einmal bleibt Paul Flecker stehen, um sich mit einem zerknitterten Stofftaschentuch die Stirn abzuwischen. Eine Frau mit einer Eistüte rempelt ihn an. Er reagiert nicht. Auch nicht, als sie sich bei ihm entschuldigt, weil ein Klecks Schokoladeneis auf seinem Schuh gelandet ist.
    »Ist viel los für die Nachsaison«, sagt Janne.
    »Das kommt vom schönen Wetter und davon, dass die Leute zu viel Freizeit haben«, grollt Paul Flecker und deutet mit dem Kinn auf ein Rudel Jugendlicher, die Mädchen halb nackt und stark geschminkt. »Kein Job, keine Lehrstelle in Sicht, aber jedenAbend Party. So hätte ich dich nicht auf die Straße gelassen. Schon gar nicht mitten in der Woche. Was sind das bloß für Eltern? Also ...« Er unterbricht sich, den Mund halb geöffnet. In seinen Augen zeichnet sich Entsetzen ab, als ihm offenbar das Gleiche in den Sinn kommt wie Janne, nämlich dass all seine Strenge und Fürsorge den Tod des Sohnes nicht verhindern konnten. Er winkt ab.
    »Ach, scheiß drauf, Süße.«
    Paul Flecker beschleunigt das Tempo. Janne betrachtet ihren Vater von der Seite. Er hat die Lippen jetzt fest aufeinanderge-presst und geht leicht gebeugt, wie auf einen imaginären Stock gestützt. Im Gegensatz zu früher wirkt er überaus kraftlos, was daran liegen könnte, dass er ziemlich zugenommen hat.
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