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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer
Autoren: Alexandra Kui
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um atmen zu können. Geflüsterte Beileidsbekundungen, durchdrungen von Mundgeruch.
    Schwer wie der Regen prasseln Bilder auf sie ein, deren Verdrängung sie Jahre ihres Lebens gekostet hat. Sie ist wieder vier Jahre alt und steht am frischen Grab ihrer leiblichen Eltern. Paul Flecker - ihr Taufpate und der beste Freund ihres Vaters - hat eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Er schirmt sie ab. Während der langen Trauerzeremonie in der Kapelle, bei der mehrmals ihr Name gefallen ist, hat sie Magenschmerzen bekommen. Die mitleidigenBlicke der Erwachsenen brennen auf der Haut, und sie starrt auf ihre Füße, die in schwarzen Lackschuhen stecken. Regen hat die Sandwege auf dem Friedhof aufgeweicht, und an den Schuhen klebt Schlamm. Niemand sonst schaut auf seine Schuhe, auch nicht auf das Grab oder den Pfarrer, alle sehen sie an. Sie weiden sich an der Tragödie und raunen sich das Wort Vollwaise zu, wenn sie glauben, Janne sei weit genug entfernt, es zu hören.
    Seit jenem Tag kostet es sie Überwindung, im Mittelpunkt zu stehen, je gieriger die Aufmerksamkeit, desto größer ihr Unbehagen. Ihre neuen Eltern - die Fleckers - haben das damals verstanden und sie in Ruhe gelassen. Sie haben auf Erik vertraut, das wunderbare Kind, das fortan ihr Bruder sein sollte. Er war lange Zeit der Einzige, der sie zum Lachen bringen konnte, und er war sehr ehrgeizig darin. Er hatte eine so positive Einstellung zum Leben, dass er selbst unangenehme Erfahrungen wie Krankheiten bis zu einem gewissen Punkt als Abenteuer betrachten konnte. Und vielem, was Janne eher bange machte, begegnete er mit unerschütterlichem Humor: Erwachsenen zum Beispiel.
     
    »Hast du das gesehen? Den kauf ich mir.« Nils' Stimme ist rau. Janne wird in den Sitz gepresst und in die Gegenwart zurückkatapultiert, als er mit Vollgas beschleunigt. Sie schlägt die Augen auf und sieht, dass er die Verfolgung einer schwarzen Limousine aufgenommen hat, die durch den Regen und den dichten Verkehr auf der Autobahn nach Westen rast. »Was soll das werden?«, fragt sie.
    »Der Idiot hat mich auf der Standspur rechts überholt. Total krank ist der doch.«
    »Und was willst du jetzt machen? Ihn umbringen und uns gleich mit?«
    »Den kauf ich mir«, wiederholt Nils, und Janne erkennt, dasses unter diesen Umständen zwecklos ist, mit ihm zu diskutieren. Sie wirft einen Blick zum Geigenkasten auf dem Rücksitz und hebt ihn in den Fußraum, wo er besser aufgehoben ist. Ohne ihre Geige reist sie nirgendwohin.
    Nach einigen riskanten Manövern haben sie die Limousine eingeholt. Nils blendet auf. Der Wagen wird noch schneller, aber der Alfa hält mühelos mit. Eine Treibjagd ohne Sicherheitsabstand.
    »Und jetzt?«, fragt Janne.
    Nils hält das Lenkrad fest umklammert und blickt starr geradeaus. »Wie konnte er uns das antun? Er war ein besserer Schwimmer als jeder andere, wie konnte er ertrinken?«, ruft er über das hochtourige Jaulen des Motors hinweg. »Ich kapier das nicht.«
    Unerschrocken betrachtet Janne den Mann, der seit fast zwanzig Jahren zu ihrem Leben gehört, zuerst nur als einer von Eriks zahlreichen Schulfreunden, bis er ihre erste Liebe wurde - und zu guter Letzt, nach Verlobung und Trennung, ihr Mitbewohner und engster Vertrauter in der großen Stadt weit weg von daheim. Nils ist ein bodenständiger Mensch und Eriks Tod der erste Verlust in seinem Leben. Sogar seine Großeltern leben noch.
    »Wir werden damit fertig«, sagt sie und legt ihm eine Hand in den verschwitzten Nacken. Sie findet, es ist ein schwacher Trost, doch er nimmt endlich den Fuß vom Gas, und die Limousine rast davon.
    »Aber nichts wird mehr so sein wie vorher.« »Nein«, sagt Janne. »Das wird es nie.«
     
    Nordwestlich von Bremen hört der Regen auf. Auf der Autobahn nach Cuxhaven lichtet sich der Verkehr. Janne öffnet das Fenster weit, und ein Schwall salziger Nordseeluft schlägt ihr ins Gesicht. Der Duft ihrer Kindheit. Ihre Heimatstadt an der Nordspitze Niedersachsens liegt an der Elbmündung und ist an zwei Seitenvon Wasser umgeben. Nirgendwo sonst ist Atmen für sie ein derart meditativer Vorgang. Sie konzentriert sich aufs Ankommen, schaut sich um, ohne an den Grund ihrer Rückkehr zu denken. Flaches, grünes Weideland. Viele der Bäume zwischen den Weiden wachsen nicht zum Himmel, sondern krümmen sich unter der Last des Westwinds landeinwärts. Das regennasse Gras dampft, als das Wasser in der Wärme des Sommerabends zu verdunsten beginnt. Es hat sich nicht abgekühlt. Über dem
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