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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer
Autoren: Alexandra Kui
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Obwohl er nicht von der Küste stammt, sieht er in ihren Augen aus wie ein Seemann, einer, der in die Jahre gekommen ist und zu viel Zeit an Land verbracht hat. Aber eben immer noch ein Seemann. Wie Erik. Nur nicht mehr ganz so blond. Aber das ist es nicht, was Janne beunruhigt. Was fehlt, ist die Aura der Zuversicht, eine unsichtbare Energiequelle, die stets beide Männer umgab. Wie alle Familienmitglieder ist es Janne gewohnt, sich daran zu wärmen. Nun wird es kalt.
    Sie erreichen die Alte Liebe. Auf der Steinkonstruktion wurde eine zweistöckige Pier aus Holz errichtet. Früher legten hier Schiffe an, heute wird sie als Aussichtsterrasse genutzt. Sie steigen die Stufen zur Galerie hinauf und verscheuchen durch ihre Ankunft ein Liebespaar. Unten, ziemlich weit abseits, steht ein Angler. Ein Schattenriss im Mondlicht. Er missachtet das strikte Angelverbot.
    Janne wartet ab. Sie hofft, dass ihr Vater den Anfang macht, doch er tut ihr nicht den Gefallen. Sie druckst herum: »Eben bei Johnny haben die Jungs am Tresen ziemlich wirres Zeug erzählt. Aber das tun sie ja eigentlich immer. Die spinnen doch!«
    Sie flüchtet sich in ein nervöses Gelächter, das in ihrer Kehle erstirbt, sobald sie das eisige Schweigen ihres Vaters registriert. Er hat Haltung angenommen, und sie begreift, dass er von ihr dasselbe erwartet. Schließlich stehen sie einander gegenüber wie zwei Soldaten gleich neben einem Fahnenmast ohne Fahne.
    »Erik wurde ermordet«, sagt Paul Flecker.
     
    Die Alte Liebe ist ein idealer Ort, um Schiffe zu beobachten. Leicht entsteht der Eindruck, selbst an Deck eines ablegenden Ozeanriesen zu stehen: der gleiche Effekt, der sich in Bahnhöfen einstellt, wenn man aus einem stehenden Zug auf einen fahrenden schaut. Ein kolossartiger Frachter der Generation Super-Post-panamax, ein Schiff also, das nicht mehr durch den Panama-Kanal passt und bis zu zehntausend Container über die Weltmeere bewegen kann, fährt stromaufwärts Richtung Hamburg. Janne fixiert die Lichter der Brücke, lauscht auf das Dröhnen der Motoren und wartet auf den verzögert einsetzenden Wellenschlag. Sie hört, wie die Matrosen einander Befehle zurufen, einige englische Sprachfetzen versteht sie sogar, und sie grübelt über ihre Bedeutung nach, während das Wort »ermordet« wie eine schlechte Anmache von ihr abgeprallt ist. Es gehört einfach nicht in das Vokabular einer Unterhaltung zwischen ihr und ihrem Vater. Es ist ein Wort, das in Boulevardmagazinen, Büchern und im Sonntagabend-Tatort vorkommt, ein Wort, geschaffen für andere Menschen, in deren Alltag so widerwärtige Dinge passieren, dass ein Drama wie der frühe Unfalltod der leiblichen Eltern banal und überaus erträglich erscheint. Ermordet wird doch niemand, den man kennt.
    »Janne, hast du mir zugehört?«
    Sie nickt, aber das genügt ihrem Vater nicht, und er packt sie an beiden Handgelenken und schüttelt sie mit kontrollierter Gewalt so lange, bis sie ihren Blick von dem Schiff löst und ihm indie Augen sieht. Unterdessen muss sie dauernd an den Namen der Helgolandfähre denken: Funny Girl.
    »Das ist doch Quatsch, oder?«, fragt sie.
    Er lässt sie los. »Nein, das ist kein Quatsch. Und jetzt reiß dich zusammen.«
    Gischt schäumt auf, als die Bugwellen des Frachters gegen das Steinfundament der Pier klatschen. Dazu Fetzen eines Seemannsliedes, vom Land her. Im Blaufeuer wird wieder gesungen.
    »Aber Nils hat von einem Unfall gesprochen«, sagt Janne in einem betont geduldigen Tonfall, als würde sie einem kleinen Kind etwas erklären.
    »Wir wollten es nicht am Telefon erzählen. Es ist so schon schwer genug. Also, hör mir endlich zu.«
    Paul Flecker erstattet Bericht. Monoton trägt er vor, was die Polizei an Fakten über den Tod seines Sohnes zusammengetragen hat. Er lässt nichts aus, von der Fuchsfalle in einer Boje weit draußen im Watt über Eriks blutigen Überlebenskampf bis hin zu seinem Scheitern beim Einlaufen der Flut. Tod durch Ertrinken. Zwei Tage sind seitdem vergangen.
    »Wer hat ihn gefunden?«
    »Es waren Wattwanderer.«
    Janne muss sich am Geländer festhalten. Das weiß lackierte Holz ist feucht von der Gischt und fühlt sich klebrig an. Wortlos verwünscht sie ihren Vater, weil er sie nicht geschont hat, und sei es mit einer Lüge: >Er musste nicht leiden.< Sie starrt auf den Strom, hört das Fließen der Wassermassen, ein völlig anderes Geräusch als das Branden des Meeres, und kämpft gegen die Schwäche in ihren Beinen. Die Elbmündung
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