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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer
Autoren: Alexandra Kui
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sie stundenlang auf der Bettkante und scheitert an dem Vorhaben, sich Socken überzustreifen. Sie erstarrt einfach. Es ist keine Absicht. Der Hausarzt lässt sich blicken, er befühlt ihre Stirn, presst ihr das Stethoskop auf Herz und Rücken und misst ihren Blutdruck. Er diagnostiziert einen Schock und verordnet Bettruhe, was Janne erleichtert zur Kenntnis nimmt. Schock, das klingt gut, das hat etwas Flüchtiges. Sie hat bereits befürchtet, sie sei verrückt geworden. Bettruhe klingt wunderbar.
    Manchmal kommt Nils, der krank aussieht, und schleppt sich einige Runden durch das geräumige Zimmer, zieht sich einen Stuhl ans Bett und setzt sich umständlich hin, steht wieder auf, dreht noch eine Runde und verabschiedet sich. Vor dem Fenster flirren die letzten Septembertage.
    Ein weiterer Besucher ist von der Kripo. Er stellt sich als Hauptkommissar Hagedorn vor. »Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagt er und sieht sie an, als wäre er der Meinung, sie müssesich bei ihm entschuldigen für die Umstände, die sie ihm bereitet. Janne beantwortet keine Fragen, nicht über sich und nicht über Erik. Er spricht sehr laut. Begriffe wie Obduktion, Todeszeitpunkt, Tatwaffe saugen den Sauerstoffgehalt aus der Luft. Janne ringt um Atem, bis ihr Vater die Befragung für beendet erklärt. Sie bekommt leichtes Fieber. Nachts schleicht Janne wie eine Diebin durch die Villa und versucht, Rückstände von Eriks Existenz aufzuspüren: Sie riecht an Stühlen, auf denen er gesessen hat, trinkt Tee aus dem Becher mit seinem Namen, holt seinen Norwegerpullover aus der hintersten Ecke des Dielenschranks und streift ihn sich über. In seinem alten Jugendzimmer unter dem Dach, in dem sich die Wärme der vergangenen Wochen staut, blättert sie in seinen Lieblingsbüchern. Nichts davon bringt ihn ein Stück näher zu ihr zurück. Ohne Erik sind es bloß Gegenstände, tot wie er selbst.
     
    Eines Morgens steht Paul Flecker im Zimmer, er trägt einen schwarzen Anzug. »Heute wird dein Bruder beerdigt. Wir alle wären sehr dankbar, wenn du ihm die Ehre erweisen könntest, den Tag nicht im Bett zu verbringen.«
    Auf seiner Stirn glänzen Schweißperlen. Es ist wieder ein warmer Tag und sein Anzug nicht sehr luftig.
    Er wartet auf ihre Antwort. Sein Atem geht schnell, als wäre er gerannt. »Hörst du mich überhaupt?«
    Und ob sie ihn hört, sie hört sogar das Ticken der Uhr an seinem Handgelenk. Der Schock, der sich als Gnade erwiesen hat, lässt sie im Stich. Zu früh. Für den heutigen Anlass hätte sie gern ein ärztliches Attest.
    »Gut, dann nicht, wenn es nicht geht.« Paul Flecker wendet sich ab. Die Armbanduhr tickt, und der Anzugstoff raschelt bei jeder Bewegung. Er hat den Siegelring angesteckt, den er vor seiner Hochzeit gekauft hat, um den zukünftigen Schwiegereiternzu imponieren. Janne hat das Schmuckstück lange nicht an seiner Hand gesehen - und es keineswegs vermisst.
    »Warte«, sagt sie heiser. Sie klingt gealtert.
    Er dreht sich um, ein kleines Lächeln auf den Lippen. »Du kannst ja reden.«
    Janne richtet sich auf. Irgendetwas an ihrem Vater zwingt sie, ihn unaufhörlich anzustarren. »Selbstverständlich werde ich zur Beerdigung gehen. Ich bin gleich unten. Und übrigens solltest du den Siegelring abnehmen. Erik hat ihn verabscheut.«
    »Ja? Sehr gut. Das ist meine Janne«, sagt er.
    Sie beobachtet, wie er den Ring abstreift und ihn auf den Schreibtisch legt, an dem sie einst die Hausaufgaben gemacht hat, und sie hat ein Gefühl, als käme es mehr als sonst darauf an, das Richtige zu sagen. Vielleicht ist dies die Gelegenheit, sich zu bedanken, dass ihre Kindheit schön war, ebenso die Zeit danach, die mit diesem Tag endet, so viel ist gewiss.
    Janne zögert. »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«
    Es stehen ihnen beiden noch genügend Reden bevor.
    »Wir werden diesen gottverdammten Zirkus schon überleben, Janne«, antwortet ihr Vater.
    Als er gegangen ist, verlässt sie das Bett, nimmt den Ring in die Hand und wundert sich darüber, wie warm er sich anfühlt. Beinahe heiß.
     
    Unter der Dusche wäscht Janne den Schutzfilm des Schocks von der Haut und lässt Gedanken an den Mord zu. Das Wort ist jetzt ein Teil von ihr, und es verändert alles. Mit einem Unglück hätte sie sicher irgendwann ihren Frieden machen können. Mord verjährt nicht - auch nicht in den Herzen der Hinterbliebenen, davon ist sie überzeugt.
    Unbegreiflich, dass Erik einen derartigen Hass auf sich ziehen konnte, er war nicht gerade
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