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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer
Autoren: Alexandra Kui
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glitzert im Mondschein, dahinter die See. Nicht einmal die Nacht trägt Trauer.
    Aus dem Augenwinkel bemerkt Janne, dass ihr Vater sich mehrmals mit dem Handrücken über die Lippen fährt und anschließend daran riecht, und sie spürt einen Anflug von Sorge. Erverhält sich sonderbar. Sie wischt den Gedanken weg, denn mehr noch als sonst erwartet sie im Sog dieser Krise von ihm Stärke und Führung. Er ist das Familienoberhaupt. Mit einem Fleck von geschmolzenem Schokoladeneis auf dem Schuh.
    »Hast du ihn gesehen?«, will sie wissen. »Als er tot war, meine ich.«
    Er nickt, und Janne weicht unwillkürlich vor ihm zurück. »Wer kann das getan haben?«, fragt sie. Schulterzucken. »Gibt es keine Spur?«
    »Ich habe keine Ahnung. Die Polizei schnüffelt überall herum«, sagt er. Janne ist irritiert, denn normalerweise würde ihr Vater über jeden Schritt der Ermittler informiert sein und so viele Entscheidungen wie möglich an sich reißen. Aber die Normalität existiert nicht mehr. Paul Flecker wirkt ratlos, überfordert - vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Janne spürt, wie ihr die Angst in den Nacken kriecht.
     
    Auf dem Heimweg fällt kein Wort, sie halten Abstand voneinander. Im Haus treffen Janne und ihr Vater auf den Rest der Familie: Meinhard sitzt neben ihrer Mutter am Küchentisch und hat einen Arm um sie gelegt, die neue Gemeindepastorin Friederike Reemts und eine Freundin bemühen sich ebenfalls um sie. Viktoria Flecker ist bleich und hat tiefe Ränder unter den Augen. Sie sieht niemanden an.
    Nicht anwesend ist Eriks Frau Hella, was Janne nicht wundert, da sich ihr Umgang mit der Familie bestenfalls distanziert, bisweilen sogar feindselig gestaltet.
    Nils ist gegangen. Janne kann gut verstehen, dass er die Nacht lieber in seinem eigenen Elternhaus verbringen will. Steif lässt sie Umarmungen und feuchtkalte Händedrücke über sich ergehen und zieht sich nach kurzer Zeit auf ihr Zimmer zurück, wo siesich, ohne ihre Kleider abzulegen, unter der Bettdecke ausstreckt. Sie hat Rückenschmerzen, versucht sich zu entspannen, indem sie in Gedanken Violinkadenzen durchspielt. Funny Girl, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Unentwegt. Funny Girl.
    Gegen Mitternacht ruft Nils auf ihrem Handy an. Obgleich er hartnäckig klingeln lässt, nimmt Janne das Gespräch nicht entgegen. Erik ist tot. Unaussprechliches ist vorgefallen, und sie geht davon aus, dass irgendjemand es Nils erzählt hat. Sie hat nichts dazu zu sagen und will kein Wort mehr hören.
     
     
     
    PAUL
    Nicht nur Janne bleibt schlaflos in dieser Nacht. Auch Paul Flecker findet keine Ruhe. Alle haben ihn gewarnt: »Geh da nicht hin, Paul. Tu dir das nicht an. Lass es sein.« Aber er wollte nicht hören, natürlich nicht, er hört nie auf andere, ist immer noch so unbeirrbar wie als junger Kerl, verfügt nur über bessere Manieren. Er redet sich ein, sein Schneid sei ungebrochen, aber vorhin im Bad ist ihm seine Gestalt im Spiegel begegnet, und da war vom Teufelskerl Paul Flecker nicht mehr viel zu sehen, bestenfalls eine Art Grundriss.
    Einen Hauch von Angst hatte er schon vor Wochen gespürt, doch er glaubt nicht an Vorahnungen.
    Jetzt hat das Schicksal also zugeschlagen. Er dachte, er sei der Sache gewachsen. Er hat in seinem Leben schon viele Tote gesehen, darunter Menschen, die ihm nahe standen: seine kleine Schwester, keine zwei Jahre alt, unter Trümmern begraben, ein Schulfreund, im Hafenbecken ins Eis eingebrochen und Jahrzehnte später tot geborgen, die eigene Mutter, von Alzheimer gezeichnet ... Aber nichts auf der Welt konnte ihn auf den Anblick vorbereiten, der ihn im Watt erwartete. Sie haben rechtgehabt, er hätte nicht gehen sollen. Etwas in ihm ist verfault, als er den schweren, nassen Schädel seines Sohnes in beide Hände genommen und die Stirn mit den Lippen berührt hat.
    Allmählich begreift er, dass der Geschmack des Meerwassers ihn fortan überallhin begleiten wird, und sein Magen verkrampft sich, doch er kann sich nicht übergeben. Er liegt im Bett, zittert vor Übelkeit und leckt mit der Zunge wieder und wieder über seine salzigen Lippen. Er weiß, dass seine Frau wach ist, er hört, wie sie leise weint, und er ist dankbar, weil sie keinen Trost von ihm erwartet.

In Würde
    JANNE
    Tage vergehen. Janne lebt wie hinter Glas. Sie findet keinen Zugang zur Welt da draußen, aber sie sieht genau, was um sie herum geschieht. Oder nicht geschieht. Am Morgen, nachdem sie die Wahrheit über Eriks Tod erfahren hat, kauert
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