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Pestmond (German Edition)

Pestmond (German Edition)

Titel: Pestmond (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Kapitel 1
    A bu Dun starb bei Sonnenaufgang. Es war ein Wunder, dass er nicht schon früher gestorben war. Doch selbst für ein Wesen ihrer Art und einen der stärksten Männer auf dieser Welt waren die Wunden am Ende zu tief gewesen und das Wüten des Kat in seinen Adern zu grausam. Diesen letzten Kampf hatte er verloren. Doch wie alles, was der nubische Riese zeit seines Lebens getan hatte, war auch sein Sterben ein Akt beinahe mythischer Dimension gewesen, wie das Ringen zweier leibhaftiger Naturgewalten, das der grimmige Schnitter am Ende zwar genauso gewann, wie er alle seine Schlachten von Anbeginn der Zeiten an gewonnen hatte, an das er sich aber auch bis ans Ende aller Zeiten zurückerinnern würde.
    Aber vielleicht war es auch nur das, was Andrej glauben wollte.
    Die Sonne war aufgegangen – vor einer Stunde, vor zwei oder drei? Welche Bedeutung hatte Zeit jetzt schon noch? Er saß noch immer neben seinem toten Freund, hielt dessen gewaltige Pranke in beiden Händen und sah in seine leeren Augen. Obwohl er nicht nur gesehen, sondern auch deutlich gespürt hatte, wie es geschah, weigerte er sich immer noch, die Wahrheit zu akzeptieren. Dabei war sie so einfach wie grausam. Abu Dun war tot.
    Das an sich war nichts Außergewöhnliches. In all den Jahrhunderten, die sie sich jetzt kannten, war er unzählige Male gestorben und genauso oft wieder aus der Dunkelheit zurückgekehrt. Aber diesmal war es anders. Vielleicht war er den Weg dieses Mal zu weit gegangen. Vielleicht blieb das allerletzte Geheimnis auch für sie unergründlich, wartete doch hinter der Tür, die sie als Einzige in beide Richtungen durchschreiten zu können glaubten, nur noch eine weitere Tür, hinter der es auch für sie keine Umkehr mehr gab.
    Dabei gehörte der Nubier doch so wie er selbst zu jenen, die den uralten Vertrag zwischen Leben und Tod schon vor langer Zeit aufgekündigt hatten und seither als Unsterbliche durch die Welt und die Millennien wanderten. Abu Dun konnte nicht sterben. Und sei es nur, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.
    Und dennoch war sein Freund jetzt tot.
    Den ganzen Tag und auch noch einen guten Teil der hereinbrechenden Nacht waren sie geritten, bis zuerst Andrejs und dann auch Abu Duns Kamel unter ihrem Gewicht zusammengebrochen und kurz darauf gestorben waren. Selbst dann hatte sich der nubische Gigant noch bis lange nach Mitternacht weitergeschleppt, bis schließlich auch seine gewaltigen Kräfte aufgebraucht waren und er zuerst auf ein Knie und dann auf den Rücken gesunken war, um aus leeren Augen in den sternenklaren Himmel über der Wüste zu starren. Sein letzter Wunsch war es gewesen, die Sonne noch einmal zu sehen, und Abu Dun wäre nicht Abu Dun, hätte er diesen letzten Wunsch nicht dem Tod abgetrotzt. Erst als das goldene Rot der Sonne in seinen Augen schimmerte und das andere unsichtbare und heißere Feuer darin auslöschte, hatte sein Freund endlich seinen Frieden gefunden.
    Andrej wusste nicht, ob es wirklich so gewesen war. Doch er hatte entschieden, dass dies seine letzte Erinnerung an Abu Dun sein sollte. Er wusste, dass sie dem Nubier gefallen hätte. Und ihm gefiel sie auch, besser als die an ihre Flucht aus der Oase, die Schreie, den Gestank und wie sie verzweifelt mit dem Schicksal gehadert hatten.
    »Ich muss jetzt gehen, mein Freund«, flüsterte er leise, doch statt sich in der Leere ringsum zu verlieren, schienen die Worte von der schieren Weite der Wüste aufgefangen und zu ihm zurückgeworfen zu werden, mit einer verborgenen Botschaft, die er nicht verstand. Vielleicht ein sachter Vorwurf, wenngleich nicht ernst gemeint. Abu Dun eben, der ihn noch im Tode verspottete.
    Trotzdem fühlte Andrej sich verpflichtet, mit einem verlegenen Lächeln hinzuzufügen: »Ich kann dich nicht begraben, mein Freund. Ich weiß, dass dein Glaube von dir verlangt, deinen Körper der Erde zurückzugeben, bevor die Sonne das nächste Mal aufgeht, aber der Boden hier ist zu hart, und ich habe weder Werkzeug noch die nötige Zeit. Sie werden bald hier sein.«
    Etwas raschelte, dann hörte er ein ganz leises Schleifen, wie Stoff, der über Metall gezogen wurde, oder ein Fuß, der unachtsam an einen Stein kam. Vielleicht war es aber auch nur der Wind, der mit einem abgestorbenen Busch spielte – oder ihre Verfolger, die gekommen waren, um zu Ende zu bringen, was sie gestern angefangen hatten.
    Er sah nicht einmal hoch.
    Sollten sie kommen und ihn töten, es war ihm gleich. Was war er ohne Abu Dun?
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