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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug
Autoren: Joy Fielding
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    Der Alptraum begann genau siebzehn Minuten nach vier an einem ungewöhnlich warmen und sonnigen 30. April. Bis zu diesem Augenblick hatte Gail Walton sich für eine glückliche Frau gehalten, und wenn einer der Reporter, die nach jenem Tag das Haus am Tarlton Drive umlagerten, sie damals gebeten hätte, ihre Selbsteinschätzung zu begründen, wäre ihr die Antwort nicht schwergefallen.
    Sie hätte die Hände ausgestreckt, mit denen sie später ihr Gesicht gegen die neugierigen Kameras und das unbarmherzig grelle Blitzlichtgewitter abschirmte, und hätte die Gründe für ihr Glück stolz an den langen, schmalen Fingern aufgezählt. Da war zuerst einmal Jack, ein geradliniger, umkomplizierter Mann, der keine Flausen im Kopf hatte. Jack war vielleicht ein bißchen ungeschliffen, aber er war ehrlich, treu und liebte seine Frau auch nach acht Ehejahren noch voller Hingabe. Die nächsten beiden Finger zählten für ihre Töchter Jennifer und Cindy. Die Mädchen waren einander nicht ähnlich, aber sie hatten schließlich auch sehr verschiedene Väter. Das brachte Gail zum vierten Grund ihres Glücks, zu ihrem Exmann Mark Gallagher... Nicht viele Frauen hatten ein so entspanntes, ungezwungenes Verhältnis zu ihrem früheren Ehepartner wie sie. Es war nicht immer so gewesen, aber in letzter Zeit hatten sie beide die erfreuliche Erkenntnis gewonnen, daß die fünf Jahre ihres Zusammenlebens doch nicht sinnlos vergeudet waren.
    Gail ging auf die vierzig zu, wirkte aber - nicht zuletzt dank ihrer sprühenden Vitalität - gut zehn Jahre jünger. Sie erfreute sich bester Gesundheit. Ihre Familie bewohnte ein hübsches Haus in einer netten Stadt. Livingston, New Jersey, bot zwar nicht so viel Abwechslung wie New York, dafür aber lebte man
hier sicherer und ruhiger, vor allem mit Kindern. Außerdem war New York selbst bei schlechtesten Verkehrsverhältnissen weniger als eine Autostunde entfernt, und dank Jacks beträchtlicher Einkünfte - er war Tierarzt - konnte sie sich den Ausflug in die Metropole leisten, sooft sie Lust dazu verspürte. Jacks guter Verdienst enthob sie auch der Notwendigkeit, selbst einer festen Arbeit nachzugehen. Sie hatte das Berufsleben in den Jahren nach der Trennung und Scheidung von Mark bis zum Überdruß kennengelernt. Damals mußte sie ihre kleine Tochter bei ihrer Mutter lassen, während sie als Bankangestellte den Unterhalt für sich und das Kind verdiente. Jetzt konnte sie es sich leisten, in aller Ruhe mit ihren Freundinnen zu Mittag zu essen. Wenn die anderen an ihren Arbeitsplatz zurückeilten, blieb Gail mit einem Kaffee zurück und sann über die Mischung aus Neid und Verwirrung nach, mit der die Freundinnen sich von ihr verabschiedet hatten. Man beneidete sie, weil sie keine unbefriedigende Arbeit zu verrichten brauchte. Gleichzeitig irritierte es die Frauen, daß Gail nicht zu wissen schien, wie wichtig ein Beruf unabhängig von den drei großen K für die Selbstverwirklichung jeder Frau ist. Was machte sie bloß den ganzen Tag zu Hause, wo es nichts zu tun gab, als ein sechsjähriges Kind zu betreuen?
    Gail hatte es aufgegeben, den berufstätigen Freundinnen ihre Wahl plausibel zu machen. Sie genoß es ganz einfach, Hausfrau und Mutter zu sein; es machte ihr Spaß, ihre beiden Töchter zu versorgen, wenn sie von der Schule heimkamen, und sie war der festen Überzeugung, daß die sechzehnjährige sie genauso nötig brauchte wie die sechsjährige. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie gern sie selbst als Heranwachsende ihre Mutter um sich gehabt hatte. Außerdem war sie gar nicht so untätig. Gail, die von Jugend auf eine begabte Klavierspielerin gewesen war, hatte vor einiger Zeit begonnen, Kindern aus der Nachbarschaft Musikunterricht zu erteilen. Inzwischen hatte sie fünf Schüler, einen für jeden Schultag. Die Kinder - im Alter von acht bis zwölf Jahren - kamen nachmittags um vier für eine halbe Stunde zu ihr ins
Haus. Um diese Zeit war Jennifer mit ihren Hausaufgaben beschäftigt, und Cindy hockte vor dem Fernseher; sie war ganz wild auf »Sesamstraße«.
    Glück hatte Gail auch mit ihren Eltern. Beide waren gesund und wohlauf. Sie hatten sich nach der Pensionierung des Vaters eine Eigentumswohnung in Florida gekauft, gleich am Meer. Vor vier Jahren waren sie nach Palm Beach gezogen, und seitdem hatten Gail, Jack und die Mädchen sie mindestens einmal jährlich besucht. Ihre Eltern kamen einmal im Jahr nach Livingston, um die Kinder zu betreuen, während Gail und Jack sich ein
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