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Kurier

Kurier

Titel: Kurier
Autoren: J Berndorf
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Onkel Hermann spricht aus dem Off

    Es ist still. Ich bin wütend und hilflos. Normalerweise gehe
ich in solchen Momenten hinaus auf den Flur, laufe irgendjemand über den Weg,
schwätze ein paar Worte oder steige in den Aufzug, fahre hinunter in die
Cafeteria, trinke etwas, sehe irgendwelche Leute, rede belangloses Zeug und
spüre, wie sich die Spannung in meinem Bauch langsam aufzulösen beginnt.

    Heute funktioniert diese Taktik nicht, das riesige Gebäude
ist leer, nirgendwo ein Mensch. Mit Sicherheit hocken ein paar
Bundesbedienstete in einem Gemeinschaftsraum im Keller und trinken behaglich
eine Flasche Bier. Wahrscheinlich grinsen sie über mich und fragen sich
scheinheilig: Wie kann sich ein Abgeordneter in der Silvesternacht mit seinen
Scheißakten beschäftigen?

    Nein, nein, das werden sie nicht fragen, denn sie sind abgebrüht.
Sie haben die Damen und Herren sinnlos betrunken erlebt, weinend oder haltlos
schreiend, nur weil sie lächerliche Machtpositionen verloren haben. Nein, sie
kann nichts mehr erschüttern, nicht einmal ein Geschlechtsakt auf dem Flur
zwischen Bündnis 90/Die Grünen und Christlich-Sozialer Union.

    So etwas soll sich unlängst ereignet haben, nachts um
drei. Der die Stille kontrollierende Bedienstete hat blubbernd vor Vergnügen
nur verlauten lassen: »Oh, Verzeihung, ich wusste nicht, dass Sie noch arbeiten.«

    Die Dame von den Alternativen hat hysterisch gekreischt,
und der Christlich-Soziale war augenblicklich impotent. Sic transit gloria
mundi.
    Ich habe mir für ein paar hundert Mark diese Schreibmaschine
gekauft, eine japanische Brother AX, das meistgekaufte Modell der Welt. Ich
will nicht, dass man mich über solche Lächerlichkeiten wie Papier und
Schreibmaschinentyp identifizieren kann, denn garantiert wird mich eine Horde
von Journalisten suchen.

    Ich kann jetzt schon mit Sicherheit voraussagen, dass der
Generalbundesanwalt dieses Manuskript Zeile für Zeile untersuchen lassen wird:
Hat da jemand das Vaterland verraten? Selbstverständlich werde ich als
Nestbeschmutzer gelten, und ebenso selbstverständlich wird jemand auf die Idee
kommen, mir nachzusagen, ich hätte Millionen für diesen Bericht kassiert. Die
Boulevardzeitungen werden titeln: Bonn
zittert.

    Der Verkäufer der Schreibmaschine hat versichert, dieser
Typ sei robust, nicht kaputtzukriegen und im Falle eines Falles leicht zu
reparieren. Seltsamerweise habe ich erwartet, dass dieses Maschinchen nahezu
lautlos das Papier mit Zeichen belegt. Das ist nicht so. Es rattert enorm in die
Stille, aber es vermittelt mir immerhin das Gefühl, wirklich zu arbeiten.

    Drüben auf der anderen Rheinseite vor dem niedrig hingestreckten
Buckel des Siebengebirges schießen die ersten Raketen hoch. Väter werden ihre
Söhne anschreien: »Kannst du denn nicht bis Mitternacht warten?« Was liegt dort
drüben eigentlich? Das südliche Ende von St. Augustin? Ist das Oberdollendorf
oder Vinkel? Ich weiß es nicht, ich arbeite seit zwei Jahrzehnten hier und weiß
es nicht.

    Ich bin sehr unsicher, oder besser gesagt: Ich schwanke.
Soll ich diese Schmuddelgeschichte öffentlich machen oder schweigen? Zuweilen
schießen mir Formulierungen in den Sinn, wie etwa: »Sie waren verdammt
gründlich, sie setzten ein Zeichen. Sie schnitten ihm den Schwanz und die Hoden
ab und stopften sie ihm in den Mund.« Ich weiß, das klingt schockierend, und
ich weiß, das hat etwas von klebriger Effekthascherei. Aber das war eine
Realität in einer ganzen Kette brutaler Realitäten, und es geschah in dieser
Welt.

    Wenn ich Ihnen versichere, dass ich wütend bin, so hat das
viele Gründe. Wütend bin ich, dass das alles überhaupt passiert ist, weil
Behörden versagten, weil wie üblich jeder jedem die Verantwortung zuschob, um
die eigene Haut zu retten. Wütend bin ich auch, weil der Untersuchungsausschuss
des Bundestages so elegant am Rande der Wahrheit entlangtänzelte und dabei jede
einfache Erkenntnis unter Wortblasen verbarg. Und wütend bin ich zudem über
mich selbst. Warum quäle ich mich seit Tagen, warum frage ich mich überhaupt,
ob das, was ich tun will, richtig ist? Ich muss es tun.

    Ich gelte als ein Zeitgenosse, der mit allen Dingen sehr
leise, fast behutsam umgeht. Was werden meine Gefährten sagen, wenn sie
erfahren, dass ich diesen Bericht geschrieben habe? Sie werden es zunächst
nicht glauben, das ist ganz sicher. Die Erkenntnis wird über sie kommen, wie es
in dieser kleinen Stadt so oft geschehen ist. Es wird sein, als
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