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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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Sie wussten, wovor er floh, da war er sich sicher. Ob sie ihn noch einholen konnte, selbst wenn er bis zur Endstation fuhr? Die Toten reiten schnell, das wusste er. Er hatte es in „Dracula“ gelesen. Das Buch hatte er wochenlang unter seinem Bett versteckt, ohne dass seine Eltern es entdeckt hatten. Er hatte es in der Nacht gelesen, als sie gestorben waren. Es hatte sich aufgeschlagen in seiner Hand befunden, als er nachts in das Schlafzimmer seiner Eltern gegangen war. Als er sie dort hatte liegen sehen, die Kehlen durchgeschnitten, alles voller Blut. Und sie war im Raum gestanden und hatte ihn angeblickt. Die weiße Fee des Todes mit ihrem wallenden roten Haar, den stechend grünen Augen und dem leuchtend weißen Gewand. Ihre dunklen Häscher waren hinter ihr gestanden und hatten sich über die Leichen seiner Eltern hergemacht.
    Der Junge vergrub sein Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.
    „Kann ich dir helfen?“, hörte er plötzlich eine freundliche Stimme neben sich.
    Er blickte auf. Eine alte Dame von etwa siebzig Jahren hatte sich neben ihn gesetzt. Sie sah aus wie eine typische Großmutter. Ihr hellgraues Haar war hochgesteckt und sie hatte ein rundes, rotbackiges Gesicht. Sie war ziemlich klein, trug ein braunes Wollkleid und hatte eine kleine Stoffhandtasche auf ihrem Schoß liegen. Hätte sie noch ein paar Stricknadeln in ihren Händen gehalten, das Bild wäre perfekt gewesen.
    „Wer sind Sie?“, fragte der Junge verwirrt.
    „Mein Name ist Erna Kubinski“, sagte die Dame. „Und wie heißt du?“
    „Leon“, antwortete der Junge wahrheitsgemäß.
    „Und wo sind deine Eltern, Leon?“
    „Die sind tot“, sagte der Junge und begann wieder zu weinen.
    „Das ist ja furchtbar“, entsetzte sich die alte Frau und legte ihren Arm um Leons Schultern. „Woran sind sie denn gestorben?“
    Leon dachte nach. Die Geschichte mit der weißen Fee des Todes würde sie ihm niemals glauben.
    „Bei einem Autounfall, vor einem Jahr“, improvisierte er.
    „Oh nein. Und wo wohnst du jetzt?“
    „Ich war in einem Waisenhaus“, log Leon. „Aber da haben sie mich immer geschlagen.“
    „Du armer Junge“, sagte Erna großmütterlich und streichelte seine Wange. „Weißt du denn schon, wo du heute Nacht schlafen kannst?“
    Leon schüttelte traurig den Kopf.
    „Dann bleibst du bis morgen früh erst mal bei mir und meinem Mann. Ich nehme dich mit nach Hause, was hältst du davon?“
    „Steigen Sie an der Endstation aus?“, fragte Leon vorsichtig.
    „Nein, schon bei der nächsten Station, warum?“
    Das war gut. Wenn er hier ausstieg, würde er die weiße Fee von seiner Spur abbringen.
    „Ich bin nur schon so müde“, meinte er,
    „Hast du denn schon etwas gegessen?“
    „Nein.“
    „Dann kriegst du erst noch ein feines Abendessen. Ich kann gut kochen, du wirst sehen.“

    Erna hatte nicht zu viel versprochen. Eine halbe Stunde später saß Leon an ihrem Küchentisch und aß Tafelspitz mit Salzkartoffeln.
    Ernas Mann Hans hatte etwas verdutzt drein gesehen, als seine Frau mit dem Jungen aufgekreuzt war. Aber er war freundlich geblieben und hatte bekräftigt, dass Leon selbstverständlich diese Nacht bei ihnen schlafen konnte. Morgen früh wolle man dann weitersehen.
    Dieses „Weitersehen“ machte Leon Angst. Was würden sie tun? Ob sie die Polizei riefen? Dann hätte die weiße Fee sicherlich keine Mühe, ihn zu finden. Länger als eine Nacht konnte er hier nicht bleiben. Im Morgengrauen musste er weiter ziehen.
    Erna und Hans setzten sich zu ihm an den Tisch.
    „Na, schmeckt es dir?“, fragte Hans und lächelte.
    Leon wollte gerade etwas sagen, da erstarrte er. Er hörte wieder das Pfeifen. Dieselbe Melodie wie in der Nacht zuvor und vorhin im Bus. Ganz leise.
    „Was ist denn los?“, fragte Erna besorgt. „Du wirst ja ganz blass.“
    „Hören Sie das auch?“, wollte Leon mit zittriger Stimme wissen.
    „Was denn?“, meinte Hans erstaunt.
    „Dieses Pfeifen ... diese Melodie“, stammelte Leon.
    „Das ist nur der Wind“, versuchte Hans ihn zu beruhigen.
    Aber Leon wusste, dass es nicht der Wind war. Er stand abrupt auf und öffnete das Fenster. Die kühle Nachtluft strömte herein und Leon hörte den Wind pfeifen. Es war nicht das Pfeifen, das er zuvor gehört hatte. Die Bäume bogen sich im Wind und starrten ihn an. Sie wussten Bescheid, aber sie sagten ihm nichts. War sie noch weit genug weg? Das Pfeifen war noch ganz leise, das beruhigte ihn etwas. Zuvor im Bus war es laut
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