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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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    Viel scheint sich nicht verändert zu haben in den letzten achtzehn Jahren. Auf der »Uthlande« gibt es noch immer dieselben lappigen Fischbrötchen, die von kroatischen Obern in abgetragenen Kellneranzügen mit einem unbeteiligten, aber verblüffend friesisch klingenden »Moin« an den Tisch gebracht werden.
    »Aber heute Abend will ich richtigen Fisch. Und Oysters. Versprochen?« Zoe runzelt die Nase unter ihrer Sonnenbrille.
    »Wollen mal sehen, was uns erwartet«, sagt Harry. »Damals musste man sich die Austern selbst sammeln.«
    Die Resopaltische unter den Bullaugenfenstern im Passagierraum der Fähre und die angestaubten Hydrokulturen zwischen den Sitzecken sind dieselben und auch die Leute: Familien mit Kleinkindern, Ehepaare aus dem Ruhrpott, die seit Jahrzehnten in die Pension »Wattblick« fahren und nach vier Wochen Freikörperkultur wie ihre eigene Ledertasche aussehen, Hamburger Ferienhäusler in Edel-Matrosenshirts von »Hilfiger« und ein paar Einheimische, die sich auf dem Festland mit neuen Kaffeemaschinen eingedeckt haben oder was man sonst für die Vermietung von Ferienwohnungen so braucht. Zumindest haben die Vogelkundler in den altmodischen Anoraks inzwischen graue Bärte. Und vielleicht ist der Fahrkartenkontrolleur der »Wyker Dampfschiffs-Reederei« etwas freundlicher |10| geworden. Auf den Inseln gibt es neben Aquarellkursen mittlerweile auch Ayurveda. Und die Rentnerinnen haben alle Walkingstöcke dabei. So ganz ist die Zeit an der nordfriesischen Inselwelt dann doch nicht vorübergegangen.
     
    Zum ersten Mal nach seiner dramatischen Flucht über die Nordsee in jenen stürmischen Herbsttagen vor achtzehn Jahren kehrt Harry Oldenburg nach Deutschland zurück. Er will Zoe, die er nach seinem ersten Kunstcoup in New York kennengelernt hat, seine norddeutsche Heimat zeigen: Hamburg, die Inseln und das Nolde-Museum in Seebüll. Er will das Grab eines alten Freundes in Keitum auf Sylt besuchen, das heißt, ein Freund war er eigentlich nicht. Vor allem hofft Harry auf Amrum ein Bild zu finden, von dem er Zoe viel erzählt hat und durch das sie damals überhaupt erst zusammengekommen sind. Und vielleicht gibt es ja auch noch die Stelle im Watt, wo man bei Niedrigwasser wilde Austern sammeln kann.
    Ohne jedes Schwanken gleitet die »Uthlande« über die sommerlich glitzernde Nordsee. Zoe ist ganz erstaunt über die Weite und die Ähnlichkeit mit der Atlantikküste in Maryland, wo sie seit ein paar Jahren leben, in einem Leuchtturm an der Chesapeake Bay. Am Horizont ziehen die wie auf das Wasser gesetzten Halligen vorüber. Harry spürt diese Hochstimmung, die er von früheren Nordseeurlauben kennt. Sie ergreift ihn, sobald er sich auf einer Fähre zu den Nordfriesischen Inseln befindet. Ein Schwung, der bald einer müden Schwere weicht. Ein paar Möwen segeln |11| träge vor dem tiefblauen Himmel über dem oberen Sonnendeck, auf dem die beiden jetzt auf einer der Polyesterbänke sitzen.
    Zoe wendet ihr Gesicht der Sonne zu und lässt sich die laue Nordseebrise in ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar wehen. Harry hat eine deutsche Zeitung aufgeschlagen. Aber er liest nicht, sondern beobachtet die Leute an Deck. Er sieht sich prüfend um, ob er jemanden kennt. Er weiß, wie unsinnig das ist. Aber er muss es tun.
    »Aufgeregt, wieder hier zu sein?«, sagt Zoe, die seine Unruhe spürt.
    »Na ja – geht so   ... «, erwidert Harry mit demonstrativer Gelassenheit.
    Ein überaktives Kind turnt trotz der von der Mutter schrill über das ganze Deck gerufenen Verbote gefährlich an der Reling herum. Ein kleiner dicker Mann in einer bunt gezackten Trainingsjacke lehnt gegenüber an dem Geländer und verfolgt mit einem Fernglas einen vorüberziehenden Krabbenfischer. Die lang gelassenen Haare, die von einem tiefliegenden Scheitel über den kahlen Kopf gelegt sind, wehen ihm immer wieder auf die falsche Seite über den Kragen seiner Jacke. Die Frau mit rotblonden Locken zwei Sitzreihen vor ihnen liest in einem Buch, dessen Titel Harry nicht erkennen kann. Er muss immer wieder hingucken, weil er wissen will, was sie liest.
    Vor allem aber behält er den Mann in der blassblauen Sportjacke im Auge. Irgendwie kommt ihm der bleiche Typ mit dem graublonden Bart und der überdimensionalen gelb getönten Stahlrandbrille bekannt vor. Als |12| er mit seiner Digitalkamera herumzufuchteln beginnt, wird Harry unruhig. Der Typ läuft auf dem Deck herum und blinzelt in die Sonne, dass seine schlechten spitzen
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