Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben
Autoren: Annette Mingels
Vom Netzwerk:
Es wird kalt. Jeden Tag kommt der Winter ein Stück näher. Gestern hat David die Autoreifen gewechselt. Jetzt, hat er gesagt, können wir in die Berge fahren. Hast du Lust, in die Berge zu fahren? Anne hat den Kopf geschüttelt. Ich glaube, ich möchte lieber hierbleiben, hat sie gesagt.
    Es gab eine Zeit, da sind sie jeden Winter in die Berge gefahren. Mit der Fähre aufs Festland. Dann die lange Fahrt. Acht Stunden hin, acht zurück. Die Kinder auf dem Rücksitz. Yola, die sagte, lass uns etwas spielen, und Karen, die irgendwann einwilligte und mit ihrer kleinen Schwester spielte. Ich sehe was, was du nicht siehst. Wer bin ich. Bist du ein Mann? Ja. Bist du berühmt? Ja. Kennt man dich aus dem Fernsehen? Nein. Bist du tot?
    Am Sonntag unternehmen sie einen langen Spaziergang. Die Landstraße entlang, vorbei am Campingplatz, auf dem zu dieser Jahreszeit nur noch zwei, drei Wohnwagen stehen, über die Holzbrücke zur Fußgängerzone. Sie setzen sich in ein Café ans Fenster. Schauen die Vorübergehenden an, manche schauen zurück. Als sie auf die Promenade treten, ist der Wind so kalt, dass er an den Wangen schmerzt und die Augen zum Tränen bringt. Noch einen Moment, bittet Anne, als David sagt: Lass uns gehen, ich erfriere.
    Noch einen Moment.
    Sie tritt an den Rand der Promenade, das Meer ist dunkel und unwillig, ein Vogel kommt auf sie zugeflogen, kurz sieht es aus, als verlöre er die Kontrolle, als könnte der Wind ihn hin und her schütteln und mit ihm machen, was ihm gefällt. Dann setzt er sich neben sie auf die Brüstung. Er ist sehr weiß, nur das Gesicht ist hinter einer schwarzen Maske verborgen. Er schaut sie abwartend an. Ich habe nichts für dich, sagt sie, nicht einen Krümel.
    Der Vogel zuckt rasch mit dem Kopf vor und zurück, blickt nur noch aus den Augenwinkeln zu ihr hin. Als er wegfliegt, scheint der Wind ihn zu tragen. Als habe er die Elemente gerufen. Als seien sie zu nichts anderem da, als ihm zu dienen.
    Es ist ein Jahr her – nein: ein Jahr und zwei Tage –, dass sie mitten in der Nacht aufwachten, weil Karen an ihrem Bett stand. Hatte sie etwas gesagt, ihre Namen gerufen? Anne weiß es nicht mehr. Woran sie sich erinnert: Davids Tasten nach seiner Brille auf dem Nachttisch, die Angst in Karens Stimme.
    Es geht um Yola, sagte sie, sie ist nicht da.
    Ihr plötzliches Verschwinden von der Party, kurz vor oder während Karens Karaokeauftritt. Das Fahrrad, das sie sich von einer Freundin geliehen hatte, ein altes Ding. Statt auf mich zu warten, mir wenigstens Bescheid zu geben, sagte Karen. Nein, keine Ahnung, ob die Lichter gingen. Als sie nach ihrem Auftritt aus dem Fenster schaute, hatte sie gesehen, dass es regnet, aber wie lange schon, wie heftig – ich weiß es nicht, sagte sie. Sie fing an zu weinen.
    Hör auf, sagte David, hör jetzt bitte auf, die Bitte wie eine Drohung, und Karen wischte sich über die Augen und zog die Nase hoch und sagte: Vor zwei Stunden war das oder vor drei.
    Sie riefen die Polizei an, eine müde Stimme am anderen Ende der Leitung. Nein, keine Unfallmeldung, nicht heute Nacht. Die kommt schon wieder, sagte der Polizist. Vielleicht ist sie bei einer Freundin. Einem Freund.
    David unterbrach ihn: Ab wann wird gesucht?, und der Polizist sagte: Wenn sie am Morgen noch nicht da ist. Und: Wir melden uns, falls wir etwas hören. Kleine Kinder, kleine Sorgen, sagte er. Große Kinder, große Sorgen.
    David zog sich eine Hose an, einen Pullover über das T-Shirt, das er im Bett getragen hatte.
    Ich fahr die Strecke ab, bleibt ihr hier.
    Nein, sagte Anne, ich komme mit.
    Sie ging ins Schlafzimmer, nahm eine Jeans aus dem Schrank, eine Strickjacke. Sah, dass ihre Hände zitterten. Karen saß am Esstisch, die Arme vor der Brust verschränkt, sie sagte: Ruft mich an, sobald ihr etwas wisst, okay?
    Es hatte aufgehört zu regnen, der Mond war von Wolken verborgen. Sie verließen das Dorf, vier Kilometer bis zum nächsten, dazwischen flaches Land. Anne sah angestrengt aus dem Fenster: die Radwege, die Dünen hinter dem Ulmenhain, dann wieder Gartenmauern, Zäune, Kreuzungen, schmale Gassen zwischen den Grundstücken. Vor dem Supermarkt stand ein Lastwagen, weißes Licht brannte über dem Seiteneingang, zwei Arbeiter schleppten Kisten mit Milchkartons und Joghurts vom Wagen zum Eingang. Beim Gemeindehaus hielten sie an, die Kirchglocken nun ganz nah, zwei Uhr. Im Vorgarten lagen einige leere Coladosen, über dem Eingang hing noch die Girlande aus Plastikbuchstaben, glänzend
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher