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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Kopf und Schultern
     
    I
     
    1915 war Horace Tarbox dreizehn Jahre alt. In jenem Jahr legte er an der Universität Princeton die Eingangsexamina ab und erhielt in Cäsar, Cicero, Vergil, Xenophon, Homer, Algebra, Planimetrie, Stereometrie und Chemie jeweils die Note »Ausgezeichnet«.
    Zwei Jahre später, George M. Cohan schrieb damals gerade seinen berühmten Song Over There, kam Horace – mittlerweile im zweiten Semester und seinen gleichaltrigen Kommilitonen bereits um Längen voraus – mit seinen Thesen über den Syllogismus als obsolete Form der Scholastik zu Potte, und während der Schlacht von Château-Thierry saß er an seinem Schreibtisch und überlegte sich, ob er wirklich noch bis zu seinem siebzehnten Geburtstag warten sollte, bevor er sich an die Niederschrift seiner Essayreihe über Die Tendenz der Neurealisten zum Pragmatismus machte.
    Kurz darauf erzählte ihm ein Zeitungsjunge, dass der Krieg vorbei war, und das freute ihn, denn es bedeutete, dass der Verlag Peat Brothers nun endlich die neue Auflage von Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes herausbringen würde. Auf eine Art war ja der Krieg in Ordnung, weil er den jungen Männern irgendwie zu mehr Selbstvertrauen verhalf, aber andererseits konnte Horace es dem Präsidenten einfach nicht verzeihen, dass er dieser Blaskapelle die Erlaubnis erteilt hatte, in der Nacht des falschen Waffenstillstands direkt unter seinem Fenster zu spielen, wodurch er drei wichtige Sätze aus seinem Aufsatz Über den deutschen Idealismus weglassen musste.
    Im Jahr darauf ging er nach Yale, um seinen Magister zu machen.
    Da war er siebzehn, groß und schlank, hatte kurzsichtige graue Augen und legte ein Gebaren an den Tag, als distanzierte er sich ganz entschieden und persönlich von den Wörtern, die er von sich gab und die eben bloß Wörter waren.
    »Es kommt mir immer so vor, als würde ich mich gar nicht richtig mit ihm unterhalten«, beschwerte sich Professor Dillinger bei einem mitfühlenden Kollegen. »Ich hab jedes Mal das Gefühl, dass ich mit seinem Stellvertreter rede. Stets rechne ich damit, dass er mir sagt: ›Na schön, ich frag mal bei mir selber nach, dann sehen wir weiter.‹«
    Und eines Tages, gerade so, als wäre Horace Tarbox Mr. Beef, der Metzger, oder Mr. Hat, der Herrenausstatter, mischte sich völlig unbeschwert das Leben ein, schnappte ihn, nahm ihn sich vor, zog ihn in die Länge und dröselte ihn auseinander wie ein Stück irische Spitze auf einem Samstagnachmittagswühltisch.
    Und wenn ich das jetzt einmal literarisch ausdrücken wollte, dann müsste ich besser sagen: Alles kam bloß daher, dass damals, zur Kolonialzeit, als die verwegenen Siedler an eine kahle Stelle in Connecticut kamen und sich gegenseitig fragten: »Na, was erbauen wir denn hier nun Schönes?«, der Verwegenste unter ihnen erwidert hatte: »Lasst uns eine Stadt erbauen, in der Theaterimpresarios Probeaufführungen von musikalischen Komödien machen können!« Dass sie dann später das Yale College gegründet haben, um dort die Probeaufführungen ihrer musikalischen Komödien zu machen, ist ja eine allgemein bekannte Geschichte. Also jedenfalls, im Dezember hatte Home James! seine Premiere im Shubert, und die Studenten im Saal brachten Marcia Meadow, die im ersten Akt ihren Song The Blundering Blimp gesungen und im letzten einen unglaublich wippeligen, hippeligen Shimmy aufs Parkett gelegt hatte, Ovationen dar und wollten sie gar nicht mehr von der Bühne lassen.
    Marcia war neunzehn. Flügel hatte sie keine, doch das Publikum war sich weitgehend einig, dass sie auch keine brauchte. Sie war naturblond auf die Welt gekommen und ging am hellerlichten Mittag ohne Schminke auf die Straße. Ansonsten war sie auch nicht besser als die meisten Frauen.
    Charlie Moon kam auf die Idee, ihr fünftausend Pall Mall zu versprechen, wenn sie dem außerordentlichen Wunderkind Horace Tarbox einen Besuch abstattete. Charlie studierte im letzten Semester am Sheffield, und er und Horace waren Vettern ersten Grades. Die beiden verband so eine Art Hassliebe.
    Horace war an jenem Abend ganz besonders beschäftigt. Er zermarterte sich den Kopf darüber, warum der Franzose Laurier die Bedeutung der Neurealisten falsch eingeschätzt hatte. Folgerichtig fühlte er sich durch das leise, aber dennoch unüberhörbare Klopfen an der Tür seines Studierzimmers lediglich dazu veranlasst, Spekulationen darüber anzustellen, ob so ein Klopfen denn tatsächlich existiere, wenn
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