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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien
Autoren: Heinz G. Konsalik
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– Dshuban operierte, sie war zuständig für die Inneren Krankheiten –, man tauschte Diagnosen aus, wechselte ein paar höfliche Worte … das war aber auch schon alles. Einen persönlichen Kontakt, ein freundschaftliches Gespräch hatte es nie gegeben – sieht man davon ab, daß einmal jährlich bei der Feier für Väterchen Frost Kommandant Rassim das leitende Personal des Lagers zum Essen, Trinken und Tanzen einlud. Notgedrungen mußte Dshuban dann auch mit Larissa Dawidowna tanzen, obwohl ihm der junge, blondgelockte Leutnant Gawril Iwanowitsch entschieden besser zusagte. Wie man überhaupt den Blick senkte, wenn vor allem blonde Patienten, die mit Dshuban allein im Arztzimmer waren, besonders gründlich und lange untersucht wurden und dann mit einem Anweisungszettel für die Küche herauskamen, auf dem stand: Vier Tage Sonderration mit zusätzlich 200 Gramm Fleischeinwaage.
    Es gab eine Zeit, in der einige Sträflinge die Margarine vom glitschigen Brot kratzten, sie sammelten und später, wenn sie ungefähr hundert Gramm zusammen hatten, einem der Lastwagenfahrer mitgaben. Er sollte dafür in Surgut ein Fläschchen Wasserstoffsuperoxyd besorgen. Damit wuschen sie dann ihre Haare, nicht nur auf dem Kopf, auch zwischen den Beinen, bleichten sie auf ein sonniges Weißblond und meldeten sich krank. Der Erfolg bei Dshuban war garantiert.
    Aber wie überall auf der Welt gab es auch im Lager verfluchte Verräter, die der Neid zerfraß. Dshuban erfuhr jedenfalls von dem üblen Trick und verbannte die nächsten Anschleicher nach einem Blick auf die weißblonde Pracht zu den gefürchtetsten Arbeitskommandos: den Grundierungstrupps in den Sümpfen. Hier fielen im Sommer Billionen Stechmücken über die wehrlosen Kolonnen her, denn nur die Wachmannschaften und Vorarbeiter trugen Mützen oder Hüte mit Moskitonetzen.
    »Etwas Besonderes, Dshuban Kasbekowitsch?« fragte Larissa Dawidowna und drehte den Plattenspieler leiser. »Oder hat ›Dornröschen‹ sie angelockt?«
    »Der Küchenwagen hat einen Toten gebracht, meine Liebe«, sagte Dshuban gefühlvoll. »Der Ärmste geriet unter eine Eisenbahnschwelle.«
    »Ein Unfall war's?« sagte die Tschakowskaja kühl. »Das ist dann Ihr Ressort, Dshuban.« Sie zog eine Decke über ihren Unterkörper, obwohl sie wußte, daß der Anblick entblößter Frauenschenkel auf Dshuban keinerlei Eindruck machte. Wie immer in den dienstfreien Stunden hatte sie es sich bequem gemacht, was hieß, daß sie nur leicht bekleidet in den überheizten Räumen herumlief, die ihr zur Verfügung standen. Es waren drei Zimmer im Hospital: ein Wohnraum, ein Schlafraum und eine Art Bibliothek. Welch ein Luxus! So wie sie hier im Straflager JaZ 451/1 wohnten nicht mal die Millionen Sowjetbürger in den großen Städten. Drei Zimmer für eine einzige Frau – wem man das in Moskau oder in Kiew erzählen würde oder gar in Irkutsk oder Tschita, der hätte milde gelächelt, einem die Hand flach auf die Stirn gelegt, um zu messen, ob man Fieber habe, und dann gesagt: »Bist ein lieber Idiot, Freundchen. Schreib's auf für ein Märchenbuch.«
    Aber im Lager 451/1, nordöstlich von Surgut am großen Ob, in den Sumpf- und Seengebieten zwischen den Flüssen Agan und Ajkajegan, einem Fleckchen Land übersät mit Gottes Tränen, die man Weiher oder Tümpel oder Teiche nannte – ein Erdenstück, in dem die Stille wie ein Schrei wirkt, so einsam ist es unter dem unbegreiflich weiten Himmel –, hier war es möglich, daß Larissa als Chefärztin drei Zimmer bewohnte. In diesen Räumen also bedeckten oft nur noch ein dünnes Höschen und ein weißer Büstenhalter ihre von der Natur verwöhnte Gestalt.
    Denn schön war Larissa Dawidowna. Schwarze Haare hatte sie, kurz geschnitten und leicht an den Schläfen gewellt. Ein schmales Gesicht mit hochangesetzten Wangenknochen. Und Augen, die voller undurchdringlicher Geheimnisse schienen und jedem Gesprächspartner das Gefühl hoffnungsloser Unterlegenheit vermittelten. Fast zwei Drittel ihres Körpers bestanden aus Beinen, schlank, aber mit muskulösen Waden. Vor zehn Jahren war sie eine gute 200-Meter-Läuferin gewesen; sie hatte zum Kader der Olympiaauswahl gehört – aber als man sie für die Mannschaft aufstellen wollte, mußte man ihr den vereiterten Blinddarm entfernen. Nach dieser an sich leichten Operation fand sie ihre große Form nicht mehr wieder und glänzte nur noch in den Studentensportgruppen. Nun war sie zweiunddreißig, von einer unverschämten
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