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Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Titel: Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
Autoren: T Rammstedt
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Sehr geehrter Herr Willis,
    es ist vollkommen verständlich, dass Sie mir nicht
antworten. Gewiss fragen Sie sich, warum Sie ausgerechnet mit mir über Ihre
Probleme reden sollten, obwohl wir uns erst seit Kurzem kennen. Schließlich
haben Sie Freunde (auch wenn Sie sich vielleicht gerade fragen, ob es so etwas
wie »Freundschaft« überhaupt gibt). Sie haben bestimmt einen Therapeuten (auch
wenn Sie sich vielleicht gerade fragen, ob es so etwas wie »Entwicklung«
überhaupt gibt). Sie haben, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, sogar eine
Schildkröte (auch wenn Sie sich vielleicht gerade fragen, ob es so etwas wie
»haben« überhaupt gibt). Und vor allem haben Sie ja sich selbst. Nur mit sich
selbst machen Sie stets alles aus, nur sich selbst vertrauen Sie sich an, nur
mit sich selbst stehen Sie nachts am Fenster und schauen hinaus in eine Welt,
die Ihnen gerade sehr diesig und sehr langsam erscheint.
    Dort können Sie gern stehen bleiben, wenn es Ihnen hilft. Sie können
mir aber auch gern antworten. Ich kenne mich mit ihren momentanen Sorgen
(Körper, Beruf, Haustiere) recht gut aus. Und ich weiß, wie wichtig es da ist,
einmal aus allem rauszukommen, ungewohnte Erfahrungen zu machen, neue
Herausforderungen zu suchen. Womöglich hätte ich ein paar Vorschläge für Sie.
    Aber wer weiß, vielleicht haben Sie ja auch gar keine Sorgen,
vielleicht stehen Sie auch rundum zufrieden mit sich selbst am Fenster, das würde
mich natürlich am meisten freuen.
    Sagen Sie also bitte kurz Bescheid, wie es um Sie bestellt ist.
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    Von meinem ehemaligen Bankberater weiß ich vor allem, wer er
alles nicht ist. »Ich bin keiner, der so schnell aufgibt«, erklärte er mir und:
»Ich bin keiner, der nur nach dem Äußeren geht.« Er sei auch keiner, der zum
Lachen in den Keller gehe, keiner, der sich vor allem Neuen fürchte, und
keiner, der sich immer sofort einen Kopf mache. Von Termin zu Termin fielen
mehr Möglichkeiten von ihm ab, und ich blieb zurück mit dem, was
vorläufig noch übrig war.

Sehr geehrter Herr Willis,
    Sie sind kein Mann der vielen Worte, ich weiß. Bei Ihnen sagt
ein Stirnrunzeln, eine gehobene Augenbraue, ein Ausatmen mehr als jeder
ausschweifende Monolog. Sie trauen den Worten nicht recht über den Weg, weil
Worte Ihrer Meinung nach nur alles überdecken und man sie erst mühsam
beiseiteräumen muss, um zum Eigentlichen zu gelangen.
    Das weiß ich alles, Herr Willis, und doch will ich Sie bitten, mir
ein paar solcher Worte zu schicken, weil ich aus der Entfernung doch nicht Ihre
Augenbrauen sehen kann, nicht Ihr Stirnrunzeln, keinen mahlenden Kiefer, keinen
Anflug eines Lächelns. In E-Mails sind wir nun einmal auf Worte angewiesen. Schicken
Sie mir doch ein paar davon, oder zumindest eines, ein »Ja« zum Beispiel, ein »Bald«,
meinetwegen auch ein »Hm«. Das wäre ein Anfang. Auf »Hm« könnte man aufbauen.
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    PS: Wenn Ihnen das einfacher erscheint, können Sie mir
natürlich auch ein aussagekräftiges Foto schicken.
    Mein ehemaliger Bankberater notierte sich viel. Seine Schrift
war gleichmäßig und so winzig, dass ich von meiner Seite des Tisches kein Wort
ausmachen konnte. Hin und wieder schien er auch Diagramme zu malen, Graphen und
Tabellen, die er mit langen Zahlenreihen füllte. An den Rand zeichnete er
lachende oder weinende Gesichter, ganze Siedlungen von Nikolaushäusern,
abstrakte Vogelschwärme, Totenköpfe. Es konnte passieren, dass er so versunken
in seine Zeichnungen war, dass er mein Gehen gar nicht bemerkte. Manchmal
winkte ich von draußen noch durchs Fenster, und wenn er mich sah, winkte
er freudig zurück, als sei das ein unverhoffter Zufall.

Sehr geehrter Herr Willis,
    ich bin mir nicht sicher, ob es mich beruhigen oder noch
weiter besorgen soll, dass Sie mir nicht antworten. Womöglich geht es Ihnen ja
blendend, so blendend, dass Sie Ihre Mails kaum lesen, weil Sie vor lauter
Euphorie gar nicht dazu kommen, weil Sie den ganzen Tag beschäftigt sind mit
beglückenden Aktivitäten, mit Sport und Freunden und dem Drehen
preisverdächtiger Filme. Vielleicht machen Sie täglich spontane Ausflüge ins
Umland. Sie lernen endlich Klavier spielen oder Aikido, Sie haben den
rauschendsten Sex seit Jahren und studieren zwischendurch mit Kindern aus Problembezirken
ein Musical ein. Abends fallen Sie redlich erschöpft ins Bett und lesen lieber
noch in einem guten Buch, irgendeine fesselnde Biografie oder diese japanischen
Kurzgeschichten, die
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