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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Siegeln war. Mein guter, seliger Mann hatte die Idee zu dem Buch gehabt und Gregory damit beauftragt, die Übersetzung anzufertigen, denn, so hatte er gesagt, einen erstklassigen Gelehrten erkennt man sofort, auch wenn er so kratzbürstig ist wie ein ganzer Korb Brennesseln. Niemand hat mich so geliebt wie Master Kendall, sonst hätte er sich nicht ein Geschenk ausgedacht, das mein ein und alles wurde. Und genau in diesem Augenblick spürte ich Augen, die mich beobachteten, und es hauchte mir kalt in den Nacken.
    »Wer ist da?« In panischer Angst fuhr ich herum, aber da war keine Menschenseele. Abgesehen von den beiden Mädchen, die jetzt auf Zehenspitzen an einem Ende der langen Fensterbank standen und versuchten, aus dem Fenster zu sehen, war niemand im Zimmer. Es war ein großer Raum, er umfaßte das ganze obere Geschoß über der Küche, der Speisekammer und dem Anrichteraum und war nur dem Namen nach ein ›Söller‹, denn viel Sonne drang nicht herein. Die Wände maßen acht Fuß, waren aus massivem Stein und durchbrochen von hohen, schmalen, unverglasten Fenstern ohne Fensterläden, die bei gutem Wetter einen dünnen Strahl bleiches Sonnenlicht hereinließen. Im rechten Winkel zur Wand waren lange Fensterbänke aus Stein in die Mauerdurchlässe eingebaut, die unbequem waren und keine Kissen hatten. Dort konnte sich niemand verbergen. Lauerte etwa jemand in den Schatten? Mein Blick wanderte die Wand entlang und musterte die Ecken. Auf den langen Kleiderhaken an den Wänden über den Betten hingen Kleidungsstücke, Kettenhemden und Langschwerter in der Scheide. Neben dem Bett der Knappen machte ein Falke mit dem Kopf unter den Flügeln ein Nickerchen, während ein anderer auf der Stange neben seinem Gefährten hin- und hertrippelte und seine Glöckchen klingeln ließ.
    Vielleicht war es ein Mensch, jemand, der sich unter den Betten versteckte. Na gut, aber mich würde er nicht überrumpeln. Ich stand auf, holte mir das schwere Langschwert und stocherte damit unter dem Bett herum, das mir am nächsten stand. »Raus da«, zischte ich wütend. Nichts unter dem Bett, in dem die Knappen schliefen. Nichts unter dem zerwühlten Strohsack, auf dem ihre Diener schliefen – denn der lag direkt auf dem Fußboden. Die Truhen standen an der Wand, und hinter ihnen hatte niemand Platz. An der gegenüberliegenden Wand war das durchgelegene kleine Bett, wo einst die Pagen geschlafen hatten, als es noch Pagen im Haus gab. Jetzt gehörte es Cecily und Alison. Angenommen, er versteckte sich darunter? Rasch durchmaß ich das Zimmer mit dem schweren Schwert in beiden Händen. Hinter mir jedoch hörte ich so etwas wie körperlose Schritte durch die Binsen rascheln, genau hinter meinen.
    »Raus da!« sagte ich und stocherte wie wild unter dem kleinen Bett herum. Keine Menschenseele darunter. Ich setzte mich zum Nachdenken aufs Bett. Die große Tür, die vom Söller zum Turm führte, war geschlossen – auf diesem Wege konnte niemand entwischt sein. Die Stiegentür stand zwar offen, aber niemand war hereingekommen. Blieb nur noch das große Bett, Sir Huberts zweitbestes, das an der Wand stand. Unser Brautlager sozusagen. Die herabbaumelnden Vorhänge waren aufgezogen, also konnte sich niemand dahinter verstecken. Doch darunter – nun ja, darunter war viel Platz. Zuviel, als daß ich jede Ecke mit dem Schwert hätte erreichen können. Das bedeutete, ich mußte einen Blick darunter werfen, ganz gleich wie sehr ich mich fürchtete. Leise schlich ich mich auf das Bett zu, bekreuzigte mich, schlug die Bettdecken hoch und kniete mich hin, um darunter nachzusehen. Du mußt jetzt stark sein, redete ich mir gut zu. Denk an deine Mädchen, du darfst nicht zulassen, daß ihnen ein Leides geschieht. Ich spähte in das modrige Dunkel und erwartete halb und halb, im Dämmer in ein Paar hell leuchtende, böse Augen zu blicken.
    »Raus da, auf der Stelle, oder ich rufe die Männer hoch und lasse Euch töten«, zischte ich und machte mit dem Schwert einen Halbkreis, soweit mein Arm reichte. Hinter meinem Ohr vermeinte ich, einen leisen Seufzer zu hören.
    »Zwecklos«, besagte der. Und da wußte ich mit Gewißheit, daß es sich nicht um einen Menschen handelte. Ich drehte mich um und lehnte mich immer noch kniend an das Bett, und meine Hand umklammerte das Kreuz, welches ich stets um den Hals trage. Es ist ein berühmter Talisman, vielleicht nicht so berühmt wie das Kreuz von Rouen, welches Stückchen von Christi Leichentuch birgt und Tote lebendig
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