Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Prolog
    E s war Sommerszeit und im Jahre des Herrn 1358, genau zwei Tage vor dem Tag des hl. Barnabas, da sprach eine Stimme aus dem Himmel in meinem Ohr.
    »Margaret«, sagte die Stimme , »was genau tust du da?« Meine Feder hielt inne, und ich blickte auf.
    »Als ob Du das nicht wüßtest«, sagte ich zu der stillen Luft.
    »Natürlich weiß Ich das, aber Ich will es von dir hören, denn das ist etwas ganz etwas anderes«, antwortete die Stimme.
    Wenn ich aber bei der richtigen Stelle anfangen soll, so muß ich damit anfangen, daß Gott mich mit Töchtern gesegnet oder eher geschlagen hat, denn die sind für Mütter Strafe und Prüfung zugleich. Und wenn wir uns einst am Tag des Jüngsten Gerichts für all unser Tun verantworten müssen, was werden wir sagen, wenn sich unsere Töchter als zu störrisch und ungeduldig zum Handarbeiten erwiesen haben? So stellt Gott uns auf die Probe und straft uns gleichermaßen für unsere Eitelkeit, denn Mütter von unlenkbaren Kindern müssen stets demütig sein.
    Der Tag jedoch, an dem die Stimme zu mir sprach, war rundherum schön und warm, und alles grünte und blühte. Wieder einmal waren wir für den Sommer mit dem gesamten Haushalt von London aufs Land gezogen; in den Küchen des Herrenhauses von Withill konnte man endlich wieder wirtschaften, und so störte nur noch das stetige Gehämmere der Zimmerleute, welche die niedergebrannten Ställe und Nebengebäude neu errichteten. Die Luft war so frisch, und die grüne Flur so einladend, daß nur ein Einfaltspinsel auf den Gedanken kommen konnte, zwei so eigensinnige, kleine Mädchen wie Cecily und Alison würden sich an ihre Pflichten erinnern. Und nur ein Obereinfaltspinsel mochte wähnen, daß zwei Mädchen, so listig wie die Schlangen, nicht auch noch ihre Kinderfrau herumbekommen könnten. Doch als ich die lange Außenstiege hochkletterte, um rasch einen Blick in die Kemenate unter dem Dachgesims zu werfen, da ahnte ich noch nicht, was ich vorfinden würde. Leer! Mir war sofort klar, was sich hier abgespielt hatte – unter dem Stickrahmen standen zwei paar kleine Schuhe herum, die Arbeit von Monaten wies ein paar Dutzend schlampige Stiche mehr auf, und auf dem Fensterbrett lag verlassen Mutter Sarahs Kunkel.
    »Sie ist um keinen Deut besser als die beiden! Wie konnte sie nur?« Ich rief aus dem Fenster: »Cecily! Alison!« und mich dünkte, ich hörte in der Ferne als Antwort schrilles Kindergelächter. Oh, schon wieder nicht bestanden, dachte ich trübsinnig. Wie soll ich aus ihnen jemals Damen machen? Und beim Jüngsten Gericht sagt Gott dann wohl: »Margaret, du hast zugelassen, daß deine Töchter verwildern. Ihre französischen Knoten halten nicht. Und die Gänseblümchen da? Pfui. Haargenau wie Pilze. Zu meiner Linken, du Unwürdige.«
    Die Stille in der verlassenen Kemenate war jedoch so einladend, daß ich auf einmal wußte, solch eine herrliche Gelegenheit zum Schreiben würde sich so schnell nicht wieder bieten. Mein, alles mein, jauchzte mein sorgloses Herz. Raum, Ruhe und Stille! Und ehe ich wußte wie, hatte ich schon Feder und Papier aus der Truhe geholt und meine Aufzeichnungen über Hauswirtschaft rings um mich ausgebreitet.
    Dazu muß ich sagen, daß ich vor langer Zeit den Plan faßte, alles aufzuschreiben, was mich Mutter Hilde gelehrt hat, damit nichts davon verlorengeht. Und nach mir soll dieses Wissen auf meine Mädchen kommen, damit sie einmal berühmt für ihre Kunstfertigkeit im Heilen, Kochen und der Hauswirtschaft werden. Daher ist es sehr gut, wenn das Ganze zu Papier gebracht wird, auch wenn wirklich alles Geheimnisse sind, denn falls mir etwas zustößt – wie kämen sie dann wohl zurecht? Denn das muß man ihnen lassen, mit der Nadel sind sie zwar langsam, aber in der Kunst des Lesens zeigen sie eine rasche Auffassungsgabe, und das findet man bei Frauen äußerst selten.
    Ich setzte die Feder an der Stelle an, wo ich aufgehört hatte. »Wer keine Motten in seinen Wollsachen haben will…« hatte ich vor vielen, vielen Monden in London geschrieben. Was hatte sich seitdem nicht alles zugetragen! Ihr Vater tot, die ganzen Veränderungen dann. Ein heller Sonnenstrahl kam von dem kleinen Fenster und fiel als warme Lichtlache auf das Papier. Motten. Wie kann Mottenbekämpfung meine Mädchen glücklich machen?
    »Zum Kuckuck mit den Motten! Was sollen mir Motten? Was ist nur in mich gefahren, daß ich überhaupt über Motten geschrieben habe?«
    »Gewiß nicht Ich, Margaret.« Die Stimme klang
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher