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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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zählte, zumindest bis zu dem Tage, als seine Familie beschloß, ihr stünde für ihre Mühewaltung Master Kendalls Vermögen zu, und mich entführte wie die Braut aus einer Minneerzählung. Nach der Hochzeit wollte Gregory nicht mehr mit mir reden, und jeder seiner Blicke zeugte von seinem Groll über eine Ehe, zu der ihn sein Vater gezwungen hatte. Und was mich anging, je besser ich seine Familie kennenlernte, desto mehr zählte ich auch ihn dazu – diesen Heuchler, diesen schamlosen Grabschänder im falschen Mönchsgewand.
    Mitten in dieser bitteren Zeit begann dann die Überwachung, wehte mich der eigenartige, kühle Hauch an, daß ich hinterher immer dachte, viel fehlt nicht mehr, und ich verliere den Verstand. Solches geschah eine Woche nach der Hochzeit – an dem Tag, als sie mit meinen Sachen aus London zurückkehrten das weiß ich noch ganz genau.
    »Da, Schwester«, sagte Hugo und kam, gefolgt von zwei Flegeln, die eine Truhe trugen, ins Zimmer marschiert, »wir bringen Euch Eure Sachen aus der City. Vater sagt, er duldet keine junge Braut im Haus, die in schwarzen Kleidern Trübsal bläst, darum befiehlt er Euch, heute zum Abendessen etwas Farbenfrohes anzuziehen.« Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich Hugo reizt. Ich weiß noch nicht recht, was mich mehr aufbringt, seine Dummheit oder seine Eitelkeit. Vielleicht kommt es auch daher, daß er sich in Bezug auf Frauen für unwiderstehlich hält. Wie auch immer, da stand er nun in seinen verdreckten Reisekleidern, die Hände in die Hüften gestemmt, und sein gemeines Schlächtermesser baumelte ihm im Gürtel. Wenn er mit Frauen redet, streichelt er den langen Griff und blickt sie anzüglich an. Kaum zu glauben, daß er und mein Mann Brüder sein sollen, so verschieden sind sie geartet. Gilbert ist dunkel und hochgewachsen, während Hugo mittelgroß und wie sein Vater ziemlich vierschrötig ist und genauso hellhaarig wie dieser. Mehr wie sein Vater einst war, denn dessen Haar und Bart sind jetzt schlohweiß. Doch wo sein Vater ein Wüterich mit buschigen weißen Brauen und stechend blauem Blick ist, wandelt Hugo in einer Aura aus Einbildung einher, welche meinen Mann fast genauso reizt wie sie mich stört.
    »Ich trage, was mir gefällt«, sagte ich.
    »Wehe Euch, Ihr handelt mir zuwider, widerborstige, kleine Eselin«, antwortete er. Hugo war viel zu nahe herangetreten. Ich funkelte ihn böse an.
    »Wenn Ihr mir gehörtet, ich hätte Euch schon gefügig gemacht«, sagte er und streichelte seinen langen, lederumhüllten Messergriff. »Ich würde Euch das Kleid da vom Leibe reißen und Euch prügeln, bis Ihr betteln würdet, das tragen zu dürfen, was ich Euch befehle. Gilbert ist ein Trottel. Nicht beschlafene Frauen werden allesamt Beißzangen.« Er blickte mich lüstern an, dann machte er auf dem Hacken kehrt. Man hatte die Truhe in der Ecke des Söllers abgestellt, und Cecily und Alison durchwühlten sie schon auf der Suche nach ihren Sachen. Auf einmal stieß Cecily einen Schrei aus und hielt ihre Bernsteinkette hoch. Ich konnte nicht anders; als ich sie sah, mußte ich an ihren Vater denken, wie er sie ihr an jenem letzten, wunderschönen Weihnachtsfest geschenkt hatte, und schon fing ich an zu weinen. Dann fing auch Alison an zu heulen, schließlich ist sie noch so klein, und Cecily stimmte mit in den Jammer ein.
    Ich hörte Hugo »Frauen! Zum Totlachen!« sagen, als er die enge, steinerne Wendeltreppe zum Palas hinunterpolterte, wobei er keine der beiden Türen an der Treppe hinter sich zumachte. Die Treppe ist nicht etwa zur Bequemlichkeit gedacht, sondern zur Verteidigung des oberen Stockwerks – die ausgetretenen Stufen gleich unter den Scharten kann man nur im Gänsemarsch hinaufsteigen, und die schweren Eichentüren oben und am Fuß der Treppe können einer Streitaxt standhalten. Doch wenn die Türen offenstehen, steigen die Geräusche aus dem Palas hoch wie Rauch im Kamin, und man kann am Leben und Treiben unten teilnehmen, als wäre man selbst dabei.
    Da kniete ich nun in den verfilzten Binsen, ging meine Truhe durch und konnte hören, wie der Streit unten an Lautstärke zunahm. »Du VERDAMMTER Narr! Das sage ich dir, wenn die da oben herausfinden, daß die Ehe nicht vollzogen ist, werden sie versuchen, sie zu annullieren! Und wie stehe ich dann da?«
    »Mittellos.«
    »Mittellos dir zuliebe, du elendiges Balg! Bestechungen für die Richter, Bestechungen für den Bischof, eine ganze Sippschaft von Advokaten und Gott weiß, wer sonst noch
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