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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Heimkehr jedoch schien man die Wittib vergessen zu haben. Sie hatte sich geziert, mit ihren modischen Pantoffeln in den Morast zu treten, also hatte man sie an der Treppe vom Pferd gehoben, bevor dieses durch den aufgewühlten Dreck im Hof zu den Ställen geführt wurde. Da stand sie nun wie ein schwarzes Bündel vor der niedrigen Rundbogentür, und ihre kleinen Mädchen klammerten sich an ihre Röcke.
    Erst nachdem er die Pferde gut versorgt wußte und nach dem Kaplan geschickt hatte, fiel es dem alten Lord ein, ihr seinen Arm und die Gastfreundschaft seines Hauses anzubieten und sie schwungvoll in seinen sogenannten Rittersaal, den Palas, zu führen. Fröstelnd saß sie in ihrem feuchten Umhang auf einer Bank am Feuer, während die Knappen die blutbespritzten Brustharnische und Kettenhemden säuberten, sie nach oben brachten und wegräumten. Der alte Ritter rief nach etwas zu trinken, dann drehte er sich um und musterte seinen jüngeren Sohn von Kopf bis Fuß. Der junge Mann überragte ihn fast um Haupteslänge, hatte einen kräftigen Knochenbau, einen dunklen Schopf und geschwungene Brauen über dunklen Augen, die vor Intelligenz nur so funkelten. Mit einem schlauen, prüfenden Blick aus blauen Augen erfaßte der alte Mann die Sandalen, in die der Sohn seine zerlumpten Beinlinge gestopft hatte, das abgetragene, knöchellange, graue Gewand mit den getrockneten Blutspritzern vorn und das grauenhafte, verfilzte Schaffell.
    »In dem Ding da heiratest du mir nicht«, sagte der alte Mann.
    »Was ist daran auszusetzen? Heiraten war doch deine Idee«, sagte der Jüngere.
    »Unverschämt wie eh und je. Steht in keinem der Bücher, die du liest, daß man ›Vater und Mutter ehren soll‹? Ich sage es noch einmal, in dem Ding da heiratest du nicht. Du bist jetzt in meinem Haus. Vergiß das nicht und hör auf, dich danebenzubenehmen.«
    Der junge Mann bekam einen aufsässigen Blick. Sein Vater befahl, in der Küche, welche hinter einem Wandschirm an den Palas angrenzte, ein Bad zu richten. Dann schickte er einen der herumlungernden Hausknechte nach Kleidung in den Söller hoch. Die Steinmauern des Palas waren zwölf Fuß dick und so feucht und kalt wie Höhlenmauern. Beim Sprechen kamen weiße Wölkchen aus dem Mund des alten Lord.
    »Ich will kein Bad«.
    »Das Stadtleben hat dich verweichlicht.« Der alte Mann strich um seinen Sohn herum und begutachtete ihn von allen Seiten, so als wollte er überprüfen, welche dieser Seiten am weichesten geworden wäre. Die Wittib wandte den Kopf und sah ihm dabei mit undurchdringlicher Miene zu.
    »Ich brauche keines. Ich will keines. Heiraten sollte dir genügen.«
    »Im Leben eines Mannes gibt es vier Anlässe, bei denen er sich waschen sollte – in deinem Falle drei. Bei seiner Geburt, wenn er zum Ritter geschlagen wird, wenn er stirbt und – WENN ER HEIRATET! Und wenn du jetzt immer noch nicht weißt, was deine Pflicht ist, rufe ich sechs Männer herein, die zeigen dir, wo es langgeht, selbst auf die Gefahr hin, daß sie dich ersäufen!« Die Stimme des alten Mannes klang gewittrig. Der Sohn richtete sich würdevoll und mit katzenartiger Geschmeidigkeit zu voller Größe auf.
    »Deine logische Argumentation, Vater, überzeugt wie gewöhnlich.«
    »Listig wie die Schlangen«, knurrte der alte Mann und folgte ihm in die Küche.
    Die Wittib saß immer noch an der großen Feuerstelle mitten im Raum und blickte sich um. Sie hielt auch immer noch den Becher umklammert, den man ihr gereicht hatte, doch das Ale sah aus, als hätte sie es nicht angerührt. Sie hatte daran gerochen und die Nase gerümpft, aber zum Glück hatte es niemand gemerkt.
    Hinter dem Wandschirm nahmen die Dinge in dem hohen Badezuber am Küchenfeuer ihren Lauf, so wie es der alte Mann befohlen hatte. Die Wittib hörte Geplätscher, als der Diener den im Zuber Stehenden mit kaltem Wasser übergoß. Der Wandschirm konnte die laute Stimme des alten Mannes auch nicht dämpfen.
    »Wehe, du kehrst deinem Vater den Rücken zu … Dreh dich um und blick mir in die Augen. – Hmm, wer hat dir denn die da übergezogen? Hat aber eine ruhige Hand gehabt. Ein Priester? Daher also. – Wofür? Ein Buch? Hast du dich etwa hingesetzt und ein Buch geschrieben? Etwas Dümmeres ist dir wohl nicht eingefallen. Das kommt davon, wenn man die Nase in Bücher steckt. Und verbrannt haben sie es auch, sagst du? So wie ich dich kenne, war es wahrscheinlich das Beste, was dem Buch passieren konnte. Du hast doch noch nie einen vernünftigen
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