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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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warm und freundlich, so als wäre sie irgendwie mitten im Sonnenstrahl. Ich blickte vom Papier auf und musterte ihn eingehend. Aber ich konnte nur Tausende von tanzenden Staubkörnchen sehen, die allesamt golden schimmerten.
    »Damals hielt ich es für eine gute Idee«, sagte ich zu dem Sonnenstrahl. »Aber jetzt besteht das Ganze nur noch aus Motten und Fischrezepten. Und dabei mag ich Fisch nicht einmal.«
    »Warum schreibst du dann darüber?«
    »Ich dachte, es geziemt sich so.«
    »Bleib bei dem, wovon du am meisten verstehst, Margaret, denn das geziemt sich.«
    Jetzt war natürlich alles klar. Gott sei Dank, ich mußte nun doch nicht über Fisch und Motten schreiben. Es ging um weitaus Wichtigeres. Und noch dazu um etwas, worüber meine Mädchen Bescheid wissen sollten, denn von der Welt bekommen sie nichts als Lügen aufgetischt und bleiben vollkommen nichtsahnend.
    »Warum so geschäftig und so tintenklecksig?« fragte mein Herr Gemahl an eben diesem Abend. »Hast du dich wieder an dein Rezeptbuch gemacht? Vergiß ja nicht das Rezept für deine leckeren Fruchttörtchen aus Blätterteig – die wären wirklich ein Verlust für die Menschheit. Oh, wie werden mich meine künftigen Eidame preisen.«
    »Ich schreibe eine Liebesgeschichte.«
    »Noch so eine Erzählung über höfische Minne, auf daß Lug und Trug in der Welt weiter zunehmen? Damit führst du die Menschheit nur auf Abwege. Bleib du schön bei deinen Kuchen.«
    »Nein, über dieses falsche, blumige Zeug wie Turniere und Liebespfänder und Lautenspiel in rosenüberrankten Liebeslauben will ich nicht schreiben. Ich schreibe über den Teil ›Und sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende‹. Ich schreibe über wahre Liebe.«
    »Wahre Liebe? Oh, noch viel schlimmer, Margaret. Kein Mensch schreibt über dergleichen. Zum einen gehört es sich nicht. Zum anderen ist es unsäglich langweilig. Nein, wenn du über die Liebe schreiben willst, mußt du dich schon an die Konventionen halten. Interessant ist doch nur, wie man sie erringt, nicht wie man sie lebt. Sieh dir Tristan an! Und Lancelot! Was für eine Liebesgeschichte hätte das wohl abgegeben, hätten sie bekommen, wonach sie begehrten. Tristan ehelicht Isolde, und dann setzen sie ein Dutzend mondgesichtiger Bälger in die Welt! Lancelot und Ginevra brennen durch und gründen einen Hausstand, und sie schimpft mit ihm, weil er Schmutz ins Haus schleppt! Was hat das noch mit ritterlicher Minne zu tun? Nichts, gar nichts! Daraus läßt sich keine Liebesgeschichte machen. Darum hören die Geschichten der trouvères , die im Gegensatz zu dir wissen, daß Eheleute nur noch Fett ansetzen, immer vor der Hochzeit auf. Blick den Tatsachen ins Auge, Margaret. Du hast nicht die geringste Ahnung, wie man Liebesgeschichten schreibt. Bleib du bei Rezepten.«
    Natürlich machte ich mich auf der Stelle an die Arbeit. Auch wenn sich mein Herr Gemahl, der eine Reihe von Gedichten zu diesem Thema geschrieben hat, für eine Autorität in Sachen Liebe hält, ich, ja, ich habe weitaus mehr geliebt.

Kapitel 1
    D ie meisten Liebesgeschichten beginnen bei Maiensonnenschein mit verstohlenen Blicken beim Tanz oder auf einem Fest oder mit einem heimlichen Stelldichein in einem verwunschenen Garten. Meine jedoch beginnt zur Winterszeit mit einem Begräbnis, als man nämlich meinen Herzallerliebsten zu Grabe trug. Nur die Pflicht hielt mich davon ab, Master Kendall in diesen langen Schlaf zu folgen. Nichts als die Tränen der beiden kleinen Töchter, die er mir hinterließ, fesselten meine widerstrebende Seele an diese Erde. Ich beschloß, Cecily und Alison zuliebe noch ein Weilchen zu bleiben, mich jedoch nur ihrer Erziehung zu widmen, mir aber niemals einen anderen Ehemann zu nehmen. Schließlich war ich mit Master Kendall verheiratet gewesen, da kam kein Geringerer in Frage. Möglich, daß es Männer von edlerer Abkunft gab, aber wer besaß wohl eine edlere Seele als Roger Kendall, Tuchhändler zu London? Und wer konnte es an Güte oder Großherzigkeit mit ihm aufnehmen? Ich hielt sein Andenken in Ehren, und das half mir, mich gegen die stetig wachsende Schar von Freiern zu wehren, die allesamt hofften, durch die Heirat mit seiner Wittib an sein Vermögen heranzukommen.
    Doch was der Mensch nicht durch Schmeichelei oder Schläue erreichen kann, das nimmt er sich mit Gewalt. Kaum war Master Kendalls Gedenktafel in die Kirchenmauer von St. Botolphe eingelassen, da entführte mich auch schon die schamloseste Familie von
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