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Bestialisch

Titel: Bestialisch
Autoren: J.A. Kerley
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Prolog
    Auf dem Land in Südalabama,
Mitte der achtziger Jahre
     
    Der gertenschlanke, blonde Teenager kickt einen Kiefernzapfen über eine staubige Landstraße, die von einem dichten Wald und einem Baumwollfeld gesäumt wird. Obwohl die nackten Arme und Beine des Jungen der unerbittlichen Sonne Alabamas ausgesetzt sind, ist er so blass, als wäre seine Epidermis undurchlässig, als könnte das harsche Licht seiner Haut nichts anhaben.
    Ein Geräusch veranlasst den Jungen, den Kopf zu drehen. Hundert Meter hinter ihm funkelt der Kühlergrill eines Transporters. Der Junge geht von der Straße, damit das Fahrzeug passieren kann, doch der Fahrer drosselt das Tempo und das Auto kommt langsam näher. Als das Fahrzeug auf gleicher Höhe mit ihm ist, steigt dem Jungen der Geruch von Motorenöl in die Nase.
    »He, ich kenne dich aus der Zeitung«, ruft der Mann hinter dem Steuer aus dem offenen Fenster und grinst dabei bis über beide Ohren. Er ist Anfang dreißig, hat kurze Haare, kantige Züge und trägt eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern. »Du bist dieser Bursche, der bei diesem HTB die höchste Punktzahl erreicht hat, oder?«, fragt er mit starkem Südstaatenakzent.
    Der Junge mit den hellblauen, beinah feminin anmutenden Augen senkte verschämt den Blick. »Es heißt HBT. Das steht für Hochbegabtentest«, murmelt er.
    »Und nun hast du ein Stipendium bekommen und kannst aufs College gehen. Wir sind alle sehr stolz auf dich. Soll ich dich mitnehmen?«
    »Danke für das Angebot, aber ich gehe lieber zu Fuß.«
    Als der Fahrer wieder breit grinst, funkeln seine weißen, ebenmäßigen Zähne. »Da draußen muss es doch an die fünfunddreißig Grad haben. Kommt überhaupt nicht in Frage, dass unser hiesiges Genie einen Hitzschlag kriegt. Wohin willst du?«
    »In die Stadt. In die Bibliothek.«
    Der Mann nickt zufrieden, als der Junge nun doch in das Fahrzeug steigt. Beim Schalten tanzen die kräftigen Armmuskeln des Fahrers unter der Haut. Er fährt eine Viertelmeile die Landstraße hinunter, ehe er abbiegt und auf einen unbefestigten Weg rollt, der kaum breiter als der Transporter ist. Äste schlagen gegen die Seiten des Fahrzeugs.
    »He!«, ruft der Junge. »Sie haben doch gesagt, Sie fahren in die Stadt.«
    Der Laster holpert auf eine kleine Lichtung und bleibt dort abrupt stehen. Der Junge schaut sich nervös um. Insektenschwärme schwirren aus den Bäumen.
    »Junger Mann, du kennst diese Stelle doch, oder?«, fragt der Fahrer. »Du warst schon mal hier. Stimmt’s?«
    Die Stimme des Mannes klingt auf einmal härter, und der Südstaatenakzent ist auch verschwunden.
    »Mister, hören Sie, ich, ähm, ich muss in die …«
    »Letztes Jahr wurde hier ein Toter gefunden, der an diese dicke Kiefer gefesselt war. Da hat sich jemand beim Töten Zeit gelassen. Richtig viel Zeit.«
    Die Hand des Jungen tastet nach dem Türgriff. Er drückt ihn herunter und presst die Schulter gegen die Tür. Sie lässt sich aber nicht öffnen. Mit angsterfüllter Miene dreht der Junge sich zum Fahrer um.
    »Verriegelt«, erklärt der Mann mit ruhiger Stimme. »Ich habe vorgesorgt. Ich behalte gern die Kontrolle. Sieh mal hier …«
    Der Fahrer zieht das blaue Arbeitshemd hoch. In seinem Gürtel steckt eine Pistole. In dem Moment überwältigen Bilder und Stimmen aus der Vergangenheit den Jungen, und mit einem Mal erinnert er sich, wer dieser Mann ist, wo er ihn zum ersten Mal gesehen hat, wovon damals gesprochen wurde.
    Der Junge schließt die Augen und denkt: Jetzt ist es aus und vorbei.
    Der Fahrer stiert in den dunklen Wald. »An dem Tag, als dieser Mann getötet wurde, war hier überall Blut. Damals wunderte sich jemand darüber, dass in den Adern eines Menschen so viel Blut fließt.«
    »Sie täuschen sich, Mister«, protestiert der Junge mit hoher, zitternder Stimme. »Ich habe nichts angestellt. Und hier bin ich auch noch nie gewesen. Ich schwöre, dass ich noch nie …«
    »HALT DIE SCHNAUZE, JUNGE!«
    Die Insekten verstummen. Die Vögel in den Bäumen rühren sich nicht mehr. Für einen Moment ist es, als bliebe die Zeit stehen. Als der Mann weiterspricht, ist der Bann gebrochen, und die Erde dreht sich wieder.
    »Ich habe viel über den Tag nachgedacht, mein Sohn. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Weißt du, was dabei rausgekommen ist?«
    »Was denn?«, flüstert der Junge.
    »Dass ich noch nie erlebt habe, wie jemand seiner Wut so unverhohlen Luft macht. Alles … rauslässt. Weißt du, was ich mit rauslassen
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