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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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die Hand aufhält! Woher sollte ich wohl wissen, daß er ihr soviel vermacht hat, daß halb London mir dafür am liebsten die Kehle durchschneiden würde?«
    »Du hättest sie fragen können, ehe du sie entführt hast.«
    »Das hast doch du gewollt. Es war alles nur dir zuliebe.«
    »Mir zuliebe? MIR zuliebe? Wer wollte denn sein Dach ausbessern? Du hast Geld gerochen und sie dir geschnappt! Ich war ZUFRIEDEN mit meinem Leben! Aber DU mußtest dich ja unbedingt einmischen, und deinetwegen sitzen wir jetzt in der Tinte!«
    »Tinte? Wir säßen nicht in der Tinte, wenn du deine Pflicht tun und diesem Frauenzimmer ein Kind machen würdest. Was ist überhaupt los mit dir? Hugo kann jeder Frau Zwillinge machen! Sieh ihn dir an – Bastarde, überall Bastarde! DAS ist mir ein Mann! DER verdreht nicht die Augen gen Himmel und brabbelt unentwegt von Gott!« Man hörte Schläge, bis sich dann Hugos Stimme fröhlich über dem Getümmel vernehmen ließ.
    »Laß ab, Vater, der bringt ja nichts mehr zustande, wenn du weiter so auf ihn eindrischst.«
    »Dann – soll – er – mir gefälligst verraten«, sagte der alte Sir Hubert und rang dabei nach Atem, »welche Ausrede er dieses Mal hat.«
    »Es ist Fastenzeit. Und obendrein Freitag.« Das war Gregorys Stimme. Sie klang prüde und selbstgerecht. Ich kannte ihn gut. Jetzt trug er gewißlich die Nase hoch und sah mit diesem tugendhaften Blick auf seinen Vater herab, der den alten Mann schier um den Verstand bringt. Allein schon bei dem Gedanken mußte ich lächeln. Ich hockte mich auf die Fersen, damit ich besser lauschen konnte. Da kannte ich Gregory, den Sauertopf, nun schon eine geraume Weile, aber ich hätte nie gedacht, daß er solch eine Familie hat. Das ist das Dumme an der Ehe: Man heiratet nicht einfach einen Menschen, nein, man heiratet eine ganze Familie.
    »Und was hat das damit zu tun, daß du deine Familie im Stich läßt?«
    »Alle kirchlichen Autoritäten stimmen darin überein, daß ein Mann, an den der Ruf ergangen ist und der dennoch heiraten muß, sich an Weihetagen der fleischlichen Beziehungen enthalten sollte.«
    »Und was sind das für Weihetage, du geweihtes Mondkalb?« kam es als leises Knurren die Stiege hoch. Unten in den Binsen war ein Krachen und Rascheln zu hören, so als wäre jemand zur Seite gesprungen, um einem Schlag auszuweichen. Ich konnte Hugo lachen hören.
    »Fastenzeit, Advent, Sonntage, Vorabende von Festtagen, mittwochs und – auch – (wieder krachte und raschelte es, dann klang es, als flöge eine Bank gegen die Wand) – freitags.«
    »Mama, sie zerschlagen die Möbel«, flüsterte Alison mit großen Augen.
    »Wehe, ihr geht hinunter, Cecily, komm sofort von der Treppe weg.« Als ich sah, daß sie widerstrebend den roten Wuschelkopf aus der Türöffnung zog, blickte ich wieder in meine Truhe. Unter einem Paar Schühchen und den Falten meines langen, blauen Wollkleides lugte ein Buchrücken hervor. Freude durchfuhr mich. Das mußte Gregory hineingeschmuggelt haben, als sie mein Haus in London durchstöbert hatten. Ich holte das Buch heraus und fuhr mit der Hand über das Monogramm auf dem Einband. M. K. – Margaret Kendall. Mein Psalter. Vielleicht hatte Gott mich ja doch nicht verlassen. Stimmen schallten die Stiege hoch.
    »Und ich sage dir, Vater, ich habe die Absicht, Gott zu sehen, ganz gleich, ob ich nun in Witham bin oder nicht, und du wirst mich nicht davon abhalten.«
    »Gott sehen? GOTT SEHEN? Hat der Abt dir diesen Gedanken nicht ein für alle Mal mit der Rute ausgetrieben? Wie kommst du auf die Idee, daß Gott ausgerechnet dich sehen will? Gott ist ein vielbeschäftigter Mann! Der hat keine Zeit für jüngere Söhne, die ihrem Vater nicht gehorchen! Und ich sage dir, kümmere du dich um deine familiären Angelegenheiten, dann kümmert sich Gott auch um dich!«
    »Du kannst machen, was du willst, ich lasse mich durch dich nicht davon abbringen. Mein Gewissen gehört immer noch mir, und ich habe vor…«
    »Deine Zeit damit zuzubringen, auf Stimmen in der Luft zu hören? Mach endlich Schluß mit dem Unfug und sei ein Mann, sonst verspreche ich dir, daß ich dir Striemen überziehe, gegen die sich die von deinem Abt wie ein Kinderspiel ausnehmen…«
    Ich schlug das Buch auf und zog mit dem Finger die säuberlich geschriebenen Zeilen nach, die mit einem roten Großbuchstaben gekennzeichnet waren. Alles Englisch. Darunter, wo die Zeile mit einem blauen Großbuchstaben begann, stand Latein, das mir aber ein Buch mit sieben
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