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Nachtblauer Tod

Nachtblauer Tod

Titel: Nachtblauer Tod
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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    Wenn er gewusst hätte, dass seine Mutter in die Augen ihres Mörders blickte, während er auf dieser Party bei seinem Freund Ben heimlich Weinbrand in die Erdbeerbowle goss, wäre er garantiert um Hilfe schreiend nach Hause gelaufen. Aber Leon Schwarz hatte keine Ahnung. Er glaubte, seine Welt sei in Ordnung.
    Die kleinen Risse im Eis deuteten nicht darauf hin, dass die Decke bald einbrechen würde. Aber es knirschte bereits, und das Eis war dünn geworden, so dünn, dass alle, die sich auf ihm befanden, in Lebensgefahr schwebten. Wie damals, als er beim Schlittschuhlaufen auf dem Teich plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte und die Kälte des Wassers ihn wie ein Faustschlag traf.
    Er musste für ein paar Schrecksekunden lang ohnmächtig geworden sein. Auf jeden Fall hatte er die Orientierung verloren.
    Er wollte auftauchen. Er brauchte Luft, aber er stieß gegen eine geschlossene Eisdecke. Er fand das verdammte Loch nicht. Die Einbruchstelle konnte jetzt seine Rettung werden. Aber wo war sie?
    Er versuchte, das Eis zu durchbrechen, aber es gelang ihm nicht. Die Kälte begann schon seinen Bewegungen die Kraft zu nehmen. Seine Muskeln wurden schwer und irgendwie lahm.
    Es war unglaublich laut unter Wasser. Die Läufer auf dem Eis ließen die gefrorene Decke stöhnen und ächzen wie ein leidendes Lebewesen, auf dem alle herumtrampelten. 
    Immer wieder träumte er von dieser Szene, wie er über sich die geschlossene Eisdecke sah. Manchmal überfielen ihn diese Bilder am hellen Tag. Es gab keine Ankündigung. Es konnte mitten im Matheunterricht passieren, oder wenn er zur Toilette ging und die Tür hinter sich schloss.
    Jetzt geschah es gerade wieder. Jetzt, da Jessy ihn ansah und ihm mit ihrem Silberblick zu verstehen gab, wie sehr sie auf ihn abfuhr.
    Sie konnte junge Männer angucken, dass es denen durch und durch ging. Andere Typen stellten sich dann vielleicht vor, wie es wäre, sie zu küssen oder ihre nackte Haut zu berühren. Er brach stattdessen ins Eis ein und stand ein bisschen hilflos, ja linkisch, herum, bekam feuchte Hände und wusste nicht, wohin mit ihnen.
    Jessy müsste ihn eigentlich für einen Idioten halten, dachte er. Trotzdem legte sie eine Hand auf seinen Arm und fragte ihn, ob er ihr ein paar Erdbeeren aus der Bowle fischen könnte. Er hätte das nur zu gern für sie getan, doch er steckte mal wieder unter der Eisdecke fest und bekam keine Luft.
    Dann retteten ihn die Bilder von seinem Vater. Wie eine Erscheinung, geboren aus Trillionen von Luftbläschen, tauchte er plötzlich unter Wasser auf. Ein Engel! Ja, wie ein Engel wirkte er und verstärkte das Gefühl in Leon, zu sterben. Immerhin wurde er nicht vom Teufel geholt, sondern von einem Engel.
    Dann hatte sein Vater ihn unsanft gepackt und mit sich gerissen. Immer wenn er seinen Vater umhüllt von Luftbläschen sah, ging es ihm besser.
    Er bekam wieder Luft, lächelte Jessy an, angelte für sie ein paar Früchte aus der Bowle und hielt ihr eine saftige Erdbeere, die sich mit Alkohol vollgesogen hatte, auf einem Picker hin.
    Sie stülpte ihre Lippen über die Frucht und schloss dabei demonstrativ die Augen.
    Er kannte kein anderes Mädchen, das so war wie sie.
    Wahrscheinlich übte sie so etwas heimlich zu Hause vor dem Spiegel. Sie liebte Hollywoodfilme. Sie konnte Julia Roberts nachmachen, Meg Ryan, Kristen Stewart und Sarah Jessica Parker.
    Sie waren allein in der Küche, und als Leon Jessy küsste, starb seine Mutter.
    Ihr letzter Gedanke galt ihm, ihrem geliebten Sohn.
    Seine Lippen brannten, und Jessy ließ es zu, dass seine Finger unter ihr T-Shirt glitten. Dann öffnete er die Augen, weil ihn das komische Gefühl beschlich, angestarrt zu werden.
    Tatsächlich, im Türrahmen, wo die Einbauküchenzeile mit einem Kühlschrank endete, stand die fünfzehnjährige Johanna.
    Ben hatte versucht, seine jüngere Schwester für die Dauer der Party loszuwerden, aber die Spaßbremse hatte so lange Theater gemacht, bis Bens Mutter ein Machtwort gesprochen hatte.
    Leon konnte nicht küssen, wenn er so angeglotzt wurde, außerdem äffte Johanna jetzt Jessy nach, als ob sie gerade einen unsichtbaren Liebhaber knutschen würde.
    Leon fühlte sich peinlich berührt und verspottet. Er schob Jessy von sich weg.
    Johanna drängte sich an den beiden vorbei zur Erdbeerbowle. Sie stieß Leon dabei versehentlich heftig an.
    »Oh, Entschuldigung – stör ich?«
    »Nee«, konterte Jessy patzig, »wir haben alle nur auf dich gewartet. Schön,
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