Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
machen soll, doch beinahe so berühmt. Es hat mich beschützt, seit es in meinen Besitz gelangte, obschon ich im Augenblick nicht die Zeit habe zu erzählen, wie sich das zutrug. »Im Namen Gottes, weiche von mir und belästige mich nicht länger«, flüsterte ich, denn die Kinder sollten mich nicht hören. Doch die einzige Antwort war ein eisiger Windstoß, der mir durch und durch ging und mir das Blut in den Adern gerinnen ließ.
    Unten war der Streit noch in vollem Gange, doch er interessierte mich nicht mehr. Ich hörte Hugos Stimme verkünden: »Also, wenn ich einmal heirate, dann gewißlich keine magere, scharfzüngige, eingebildete Wittib aus London. Ich nehme es dir wirklich nicht übel, Gilbert. Die hat zuviel Jahre auf dem Buckel, da beißt keiner mehr an. Nimm also ruhig ihr Geld und spiel den Heiligen. Ich finde schon noch eine Frische und Unverbrauchte, die mir viele Söhne austrägt.« Es krachte, denn schon wieder flogen Möbel durch die Gegend. Ich spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht liefen. Alt, alt. Das also war es. Ich war alt. Nicht mehr jung und unverbraucht. Dreiundzwanzig Lenze und müde von der ganzen Plackerei und zu alt, um noch einmal wahre Liebe zu erfahren.
    »Oh, Master Kendall, warum mußtet Ihr sterben?« rief ich. »Ihr habt mich stets geliebt und wart gut zu mir. Und so alt wart Ihr nun auch wieder nicht – warum habt Ihr nicht länger gelebt und mir das hier erspart?« Ich spürte, wie sich das kalte Ding gleichsam wie ein Umschlagtuch um meine Schultern legte, doch ich war zu traurig, um auch nur zu frösteln. Die Mädchen waren es leid, auf den Fensterbänken herumzuklettern, und da sie mich so bekümmert sahen, kamen sie herbei, setzten sich auf meinen Schoß und wollten mich trösten. In der Luft hinter uns war ein leiser Laut zu hören – er klang traurig und wie ein Seufzer.
    Bald jedoch war es Zeit zum Abendessen, anschließend folgte das Gelage, die Hauptlustbarkeit in diesem Haus, welches nicht einmal einen Spielmann hatte. Mitten in der Halle loderte als einzige Lichtquelle das große Feuer, hellrot beschien es die Gesichter an den Schragentischen. Am erhöhten Kopfende des Tisches wurde immer Französisch gesprochen, nur um alle Lauscher – Gott inbegriffen – daran zu gemahnen, daß die de Vilers eine sehr alte Familie waren und man ihnen keine Vermischung mit englischem Bauernblut nachsagen konnte. Zur Rechten erstreckte sich eine lange Wand mit einem Wald von Geweihen. Die Wand zur Linken des erhöhten Tisches zierten eroberte Lanzenfähnchen aus Sir Huberts letztem Feldzug gegen die Franzosen, dazu gesellten sich schottische und walisische Streitäxte und ein großer, verbeulter Schild mit einer arg abgeblätterten Abbildung des de Vilers'schen Wappens: drei Herzmuscheln und ein roter Löwe. Kein einziger Wandbehang. Die waren zu »verweichlicht«. Falls Sir Hubert einmal einen gehabt haben sollte, so hatte er ihn gewiß für ein Pferd eingetauscht.
    »Mit Verlaub, trinkt, Frau Schwester«, sagte Hugo und reichte mir den Becher mit Ale. »Ihr stochert ja nur im Essen herum und werdet von Tag zu Tag dürrer. Ihr braucht Fleisch auf den Rippen, wenn Ihr meinem Bruder gefallen wollt.« Ritterlichkeit, pah, nichts als Gemeinheit im prächtigen Gewand, dachte ich.
    »Habt Dank, lieber Bruder, daß Ihr Euch um mich sorgt, aber ich bin nicht durstig«, gab ich auf Französisch zurück. In einem Hause, in welchem man das Wasser zum Alebrauen aus eben dem Burggraben holt, in den man auch den Abfall wirft, kann man schwerlich Durst bekommen. Und dabei biß ich mir noch auf die Zunge, denn das Ale, das ich früher gebraut hatte, war zehnmal besser als ihres hier. Ich nehme dazu ausschließlich frisches Quellwasser; das ist eines meiner Geheimnisse. Das andere ist ein besonderes Gebet, das ich beim Gären spreche, aber das schreibe ich nicht auf, sonst könnte ja alle Welt davon Gebrauch machen. Mein Bier hat Master Kendall immer sehr gut gemundet, und Gregory auch – einer der Gründe, warum er soviel im Haus herumlungerte und auf theologische Dispute mit Master Kendall aus war.
    »Ha, hört ihr diesen näselnden Akzent? Im Kloster erzogen, jede Wette«, sagte der alte Sir Hubert und wischte sich den Bart im Tischtuch. Gregory, der mehr über meine Familie weiß, als gut tut, setzte eine ironische Miene auf. Die am niedrigen Tisch in Englisch ausgetauschten Witze und Anzüglichkeiten wurden immer derber. Sir Hubert leerte den Becher. Ale, selbst dieses, stimmte ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher