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Tallinn-Verschwörung

Tallinn-Verschwörung

Titel: Tallinn-Verschwörung
Autoren: N Marni
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EINS
    D ie Leuchtziffern der Uhr zeigten kurz vor drei und es war Nacht – keine gute Zeit, um in dieser Gegend allein unterwegs zu sein. Die Straßen waren so still und unbelebt, dass es Andrea einen Schauer über den Rücken jagte. Auch wirkten die schwarzen Hochhäuser im Mondlicht wie zu Ruinen zerfallen, und die Laternen standen so weit auseinander, dass ihr Licht den leichten Nebel kaum zu durchdringen vermochte. In dem schmalen Durchgang, der zur Haustür der Nummer neun führte, hatte der Architekt sich die Lampen ganz gespart. Erst wenn man den kleinen, in der Dunkelheit schimmernden Knopf drückte, wurden das Klingelbrett und die Tür erleuchtet.
    Andrea Kirschbaum blieb stehen und kämpfte gegen die Angst. Dabei hatte sie sich vor zwei Wochen noch gefreut, hier ein Apartment beziehen zu können. Die riesige Wohnanlage lag nicht weit vom Klinikum Neuperlach entfernt, in dem sie eine Stelle als Assistenzärztin gefunden hatte, und die kleine Wohnung war vor allen Dingen bezahlbar. Bisher hatte Andrea sich in diesem Mikrokosmos, in dem Menschen verschiedenster Nationen und Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander lebten, wohl gefühlt, auch wenn Torsten die Ansammlung schwarzgelber Hochhäuser einen Slum genannt hatte. Beim Gedanken an Torsten kniff sie die Lippen zusammen. Mit ihm würde sie Tacheles reden müssen, denn so wie jetzt ging es nicht weiter. Entweder wechselte er die Dienststelle, so dass er nicht mehr auf Auslandseinsätze geschickt wurde, oder sie würde …
    Ein Geräusch, das Andrea hinter sich zu hören glaubte,
unterbrach ihren stummen Monolog. In schierer Panik hastete sie weiter und prallte gegen die gläserne Front, in der die Tür und das Klingelbrett eingelassen waren. Ohne Licht zu machen, tastete sie nach dem Schloss, steckte den Schlüssel hinein und öffnete.
    Als die Tür hinter ihr zuschnappte, atmete sie auf. Gleichzeitig schimpfte sie mit sich selbst und ihren überreizten Nerven. Nicht die Wohnanlage war schuld an ihrer gedrückten Stimmung, sondern der Stress im Job. Sie war mehr als zwanzig Stunden in der Klinik gewesen und hatte während dieser Zeit bei sechs Operationen assistieren müssen. Bei der letzten, die länger als vier Stunden gedauert hatte, war es um Leben und Tod gegangen. Frisch von der Uni gekommen, fiel es ihr nicht leicht, eine solche Anspannung wegzustecken.
    Andrea tröstete sich mit dem Gedanken, dass es mit der Zeit leichter werden würde, und betrat den Aufzug. Bevor sie die Hand ausstrecken und den Knopf für den neunten Stock drücken konnte, setzte die Kabine sich in Bewegung. Im ersten Augenblick zuckte sie zusammen, lachte dann aber über sich selbst. Auch um drei Uhr morgens gab es Leute, die das Haus verlassen wollten. Sie drückte auf den Knopf mit der Neun und lehnte sich gegen die Fahrstuhlwand.
    Seltsamerweise hielt der Fahrstuhl nirgends. Der sechste Stock blieb hinter Andrea zurück, der siebte und zuletzt auch noch der achte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, denn im obersten Stockwerk wohnte nur sie. Ihres Wissens standen die anderen Wohnungen leer.
    »Wahrscheinlich habe ich beim Betreten des Fahrstuhls unbewusst doch gedrückt«, sagte Andrea zu sich selbst und wartete, bis sich die Fahrstuhltür öffnete. Als es so weit war, trat sie mit einem raschen Schritt ins Freie – und prallte mit jemandem zusammen.

    »Entschuldigung!«, sagte sie. Dann aber weiteten sich ihre Augen beim Anblick des kräftig gebauten Kerls, der mindestens eins neunzig groß war und fünfundneunzig Kilo auf die Waage bringen mochte. Sein Schädel war kahlgeschoren und gab seinem Kopf die Gestalt einer polierten Kugel. Noch auffälliger aber war das ausgewaschene T-Shirt unter der offenen Weste, auf dem noch vier Buchstaben des Levels zu erkennen waren: NSDA. Es musste ein LONSDALE-T-Shirt sein. Andrea wusste von Torsten, dass dies die Lieblingsmarke vieler Neonazis war, weil die Buchstaben auf die NSDAP hinwiesen, ohne als verbotenes Symbol zu gelten.
    Noch während sie sich fragte, was der Typ auf ihrem Stockwerk zu suchen hatte, bemerkte sie die drei anderen Männer, die eben eine der angeblich leer stehenden Wohnungen verließen. Zwei von ihnen kannte sie. Der eine war Monsignore Balthasar Kranz, der am Tag zuvor einen erkrankten Ordensbruder in der Klinik besucht und sich beinahe hysterisch aufgeführt hatte, weil er den Schwerkranken nicht in ein Ordenskrankenhaus überführen lassen durfte.
    Von dem Zweiten hatte sie Bilder auf Torstens Laptop
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