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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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gnädiger – nur eben nicht gnädig genug. Ich musterte die Gesichter der am Tisch Sitzenden und überlegte, ob Gregory auch einmal so unmöglich wie sein Vater werden würde. Der alte Mann rülpste und wischte sich einen Tropfen Bratensoße mit dem Tischtuch aus dem zerrupften, weißen Bart. Er trug sich mit einer gewissen schäbigen Überheblichkeit in einem ziemlich abgetragenen, altmodischen Rittergewand aus schwerer Wolle, das ihm bis zur Wade reichte, darüber hatte er einen langen, braunen, bestickten Überrock mit einem Futter aus Fehpelz. Auf dem Ehrenplatz neben ihm saß Sir Hugo, dessen Ritterschlag das Familienvermögen erschöpft hatte. Der ist sogar noch schlimmer, dachte ich und sah zu, wie er den Becher an den Mund setzte. Und überhaupt sieht Gregory viel besser aus.
    Sir Huberts jüngerer Sohn überragte seinen Vater und seinen älteren Bruder mindestens um Haupteslänge, hatte einen wilden, braunen Lockenschopf, dunkle Augen und finstere Brauen, die er gern ironisch-abweisend wölbte, seine Lieblingsmiene vor allem im Familienkreis, unter Fremden und Einfaltspinseln. Wenn sich jemand damit auskannte, dann ich, hatte er sie doch in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft oft genug aufgesetzt. Und im Gegensatz zum Rest seiner Familie, hatte er einen hellen Kopf. Er konnte in drei Sprachen Gedichte machen und so gut theologisch disputieren, daß es einen Bischof zu Tränen rührte, doch das alles zählte nicht unter dem Dach seines Vaters. Hier am väterlichen Herd stockte ihm die witzige, boshafte Zunge, und die ewig übellaunige Zornesmiene entstellte seine gut geschnittenen Züge. Ich war der Köder, mit dem sein Vater ihn zur Heimkehr gezwungen hatte, und das trug er mir nach.
    Doch Sir Hubert hatte gemerkt, daß ich sie musterte. Als sein Knappe sich hinkniete und ihm das nächste Gericht darbot, stellte er den Becher hin und richtete das Wort an mich:
    »Madame und Frau Schwiegertochter, was haltet Ihr von unserem altehrwürdigen Familiensitz?« Er hob eine weiße Braue und sah mich an, als ob mir eine Laus den Hals hochkrabbelte.
    Gute Tischmanieren ade, ich bin es leid, dachte ich. Was habe ich schon von euch als eine Atempause in dem ganzen Gebrüll. Im höflichsten Hoffranzösisch gab ich zurück:
    »Hochverehrtester Herr und Schwiegervater, Euer geschätztes Haus hat stets etwas Neues zu bieten und ist für mich von unermeßlichem Interesse, denn früher mußte ich mich mit dem einfachen Leben in der Stadt begnügen.«
    Leise knurrend erwiderte er: »Macht mir die große Freude und zählt mir all das Neue, das Euch so interessiert, einmal auf.« Bereits als er das sagte, war mir klar, daß es unklug gewesen wäre, wenn ich auf nüchternen Magen getrunken hätte.
    »Es ist meine Pflicht, Euch in allem zu gehorchen«, sagte ich und blickte betrübt auf das dunkelgrüne Überkleid, das ich über mein schwarzes Unterkleid gezogen hatte. »So wisset denn, daß Euer bezauberndes Heim Ratten in den Binsen, Flöhe in allen Betten und eine Weiße Dame in der Kapelle hat.« Ich sah, wie er vor Zorn zusammenzuckte und seine Hand zur Hundepeitsche fuhr, welche immer in seinem Gürtel steckt, wenn er daheim ist. Die Jagdhunde unter dem Tisch rührten sich und knurrten. Ich reckte das Kinn. Soll er nur gegen die guten Tischsitten verstoßen.
    Doch auf einmal lehnte er sich zurück und sagte lächelnd auf Englisch: »Eine spitze Zunge, doch zumindest habt Ihr Rückgrat. Nicht schlecht – das hier ist kein Haus für schwache Frauenzimmer.« Er beugte sich zu mir. »Ihr habt vermutlich mit dem Kaplan geschwatzt, und der hat Euch von der Weißen Dame erzählt. Wißt Ihr denn nicht, daß Ihr einem Lügenmärchen aufgesessen seid? Er benutzt sie als Ausrede dafür, daß er betrunken die Messe liest.«
    »Nein«, gab ich zurück, »für ein Schwätzchen ist er nie nüchtern genug. Es ist in der Tat ein Wunder, daß er den Hochzeitsgottesdienst durchgestanden hat, ohne umzufallen. Die Weiße Dame habe ich selber gehört.«
    »Ihr selber? Ei, das ist mir ja eine hübsche Geschichte. Mit Verlaub, erzählt, worüber sie sich grämt.«
    »Das habe ich ein Weilchen auch nicht gewußt, aber da ich ziemlich viel allein in der Kapelle bete, höre ich sie recht häufig weinen. Eines Abends, gerade vor der Vesper, habe ich Worte aus dem Weinen herausgehört. Sie hat geschluchzt: ›Alle meine Kinder, alle tot‹, und dann hat sie noch eine Weile vor sich hingeweint, ehe sie verschwunden ist.« Hugo fuhr zusammen und
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