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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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bekreuzigte sich, und Gilbert wirkte ernst und ruhig.
    Doch der alte Mann donnerte mit der Faust auf den Tisch und brüllte: »Als ob ich es nicht gewußt hätte! Erst stirbt sie, und dann findet sie Mittel und Wege, wie sie mich weiter ärgern kann! Gerade als ich dachte, jetzt wäre endlich Schluß! Frauen! Eine Plage für jeden Mann!« Seine Stimme war so laut, daß die Leute an den niedrigen Tischen aufhorchten, weil sie wissen wollten, was an unserem vor sich ging. Doch als der Abend zu Ende war und sich alles nach oben verzog, packte Sir Hubert seinen Ältesten beim Ärmel.
    »Bleib hier, Hugo. Ich will mich heute abend vollaufen lassen«, sagte er, und dann setzten sich Vater und Sohn und all ihre flegelhaften Gefolgsleute an den festen Tisch inmitten des Wirrwarrs von abgebauten Schragen und schlafenden Hunden und machten ein neues Faß Ale auf.
    Ihr trübseliges Gesinge war noch zu hören, als ich auf dem Bett saß, meinen Schleier abnahm und mir die Zöpfe auskämmte. Nicht einmal eine Magd hatten sie für mich aufgetrieben und eine Kinderfrau auch nicht. Sie hatten einfach keine Vorstellung davon, wie Frauen sich ankleideten, und die Mühe nachzufragen, die hatten sie sich auch nicht gemacht. Und falls sie auf den abwegigen Gedanken gekommen wären, so hätten sie mir nicht zugehört. Gregory hatte sich wie gewohnt bis auf die Unterhose entkleidet und kniete vor seinem Kruzifix, das er neben dem Bett aufgehängt hatte. Mönchische Gewohnheiten sind schwer abzulegen. In den Locken auf seinem Hinterkopf konnte man immer noch eine kleine Delle erkennen, dort wo seine Tonsur ausgewachsen war. Es erboste ihn, daß ihm sein Vater nicht erlaubte, sich diese wieder zu rasieren, zumindest die Gelehrtentonsur, auf die er ein Anrecht hatte. Und sein langes Gewand hatte er auch verbrannt. Wenn ich ihn mir jetzt ansah, dann fand ich ihn so eigentlich hübscher. Als wir uns kennenlernten, war mir gar nicht aufgefallen, wie anziehend seine widerspenstigen, dunklen Locken waren. Und wer hätte geahnt, was für eine gute Figur sich unter dem formlosen, alten Gewand verbarg? Doch sein härenes Hemd hatte er behalten. Das trug er nun jeden Tag unter dem zweitbesten Jagdrock seines Vaters, so als wollte er sich dafür bestrafen, daß er heimgekehrt war.
    Zuweilen wünschte ich mir so sehr, daß alles wie früher wäre: ich seine Schülerin und er wieder Bruder Gregory. Wieviel leichter war es, als er für mich nur ein gelehrter Kopf, jedoch kein Mann war. Ich weiß um den Klatsch, wir hätten häßliche Dinge miteinander getrieben, doch daran ist kein wahres Wort. Gerade darum war alles doch so schön. Zuförderst liebte ich Master Kendall und dann erst die Bildung. Und Bruder Gregory war zwar unleidlich, aber er erschloß mir die Welt der Gelehrsamkeit und führte mich ins helle Licht der Erkenntnis. Wer hätte ihn dafür wohl nicht bewundert? Was für ein unschuldiger Zeitvertreib, seine Launen, Anfälle und Anwandlungen zu beobachten, so wie man dahinziehende Wolken betrachtet, wenn sie am Himmel immer neue Formen bilden.
    Bis auf den heutigen Tag habe ich nicht vergessen, wie seine muskulösen Hände aussahen, wenn sie so eigenartig anmutig den Griffel hielten, wie elegant sie die Lettern in das Wachs zogen, damit ich sie nachziehen konnte, und wie sauertöpfisch seine Miene wurde, wenn sich mein alter Hund unter dem Schreibtisch zu seinen Füßen hinlegte, einschlief und laut vor sich hinschnarchte, gerade wenn er mir erklären wollte, was Aristoteles über Ästhetik gesagt hat. Oder seine ständige Zankerei mit dem Vogel der Köchin, der ihn rauh ankreischte, wenn er unangemeldet die Küche betrat. Und wenn Master Kendall ihm liebenswürdig und gutgelaunt Essen und ein neues Gewand anbot, dann scharte sich der gesamte Haushalt um die beiden und hatte seinen Spaß an den widerstreitenden Empfindungen auf dem Gesicht des Lehrers, der nun entscheiden mußte, ob er solch ein Angebot von einem Mann annehmen konnte, der sein Geld als Kaufmann verdiente. Bruder Gregory war meines Wissens der einzige Mensch, der seinen Lohn entgegennahm, als würde er einem damit einen Gefallen tun.
    So war ich natürlich zutiefst erstaunt – und dankbar –, als er am Tag nach dem Begräbnis mit dem Schwert in der Hand auftauchte und mich vor meinen mordlüsternen, erwachsenen Stiefsöhnen errettete. Doch danach wurde alles gallenbitter. Er war für die Ehe nicht geschaffen und ich nicht für eine neue Ehe.
    Ohne mich auch nur anzusehen,
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