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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman
Autoren: H kan Nesser
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    Wenn Ernst Simmel gewußt hätte, daß er kurz davor war, das zweite Opfer des Henkers zu werden, hätte er sich vermutlich noch ein paar kräftige Drinks in der Blauen Barke gegönnt.
    Doch so begnügte er sich mit einem Cognac zum Kaffee und einem verdünnten Whisky in der Bar, wobei er ziemlich fruchtlos und ohne wirkliches Engagement versuchte, mit einer blondierten Frau Blickkontakt aufzunehmen, die schräg gegenüber am Treseneck saß. Offensichtlich war es eine der Neueingestellten unten in der Konservenfabrik. Er hatte sie noch nie gesehen, und er hatte einen gewissen Überblick.
    Rechts von ihm saß Herman Schalke von de Journaal und versuchte ihn für eine billige Wochenendreise nach Kaliningrad zu interessieren, oder irgendwas ähnliches, und wenn man später versuchen würde, den Abend zu rekonstruieren, dann würde man zu dem Ergebnis kommen, daß Schalke der letzte gewesen sein mußte, der in diesem Leben mit Simmel geredet hatte.
    Das heißt, wenn man nicht davon ausging, daß der Henker ihm noch etwas mitzuteilen gehabt hatte, bevor er ihn umbrachte. Was allerdings nicht sehr wahrscheinlich war, denn der Stich kam, genau wie beim ersten Fall, schräg von hinten und ein wenig von unten. Was gab es da noch viel zu sagen?
    »Ach«, hatte Simmel geseufzt und die letzten Tropfen in sich hineingekippt. Zeit, sich nach Hause aufzumachen, zur Frau.
    Wenn Schalke sich richtig erinnerte. Jedenfalls hatte er versucht,
ihn noch zu überreden. Erklärt, daß es doch erst elf Uhr wäre und die Nacht noch jung, aber Simmel war standhaft geblieben.
    Ja, genau das, standhaft. War einfach von seinem Stuhl gerutscht. Hatte seine Brille zurechtgerückt und das dünne, etwas lächerliche Haar quer über die Glatze gestrichen, wie er es immer tat, als ließe sich damit noch etwas kaschieren... hatte irgendwas gemurmelt und war gegangen. Das letzte, was Schalke von ihm sah, war sein lichtbeschienener Rücken, als er in der Tür stand und zu zögern schien, welche Richtung er einschlagen sollte.
    Was natürlich, im nachhinein betrachtet, etwas merkwürdig war. Simmel mußte doch wohl wissen, wo er wohnte?
    Aber er konnte natürlich auch nur einfach einen Moment stehengeblieben sein, um sich die milde Abendluft zu Gemüte zu führen. Es war ein heißer Tag gewesen, der Sommer war noch nicht vorbei, und die Abende bekamen langsam diese satte Schwere, als lagerten immer noch die Sonnenstunden mehrerer Monate in ihnen. Lagerten dort und wurden immer edler.
    Wie geschaffen, um einen tiefen Atemzug davon zu nehmen, hatte jemand gesagt. Diese Nächte.
    Im Nachhinein gesehen ein idealer Abend, um auf die andere Seite zu wechseln, wenn man es unter diesem Gesichtspunkt sah. Schalkes Gebiet bei de Journaal war zwar eher der sportliche und folkloristische Bereich, aber in seiner Eigenschaft als letzter Zeuge hatte er doch wohl die Berechtigung dazu, einen Nachruf auf den so plötzlich dahingerafften Immobilienmakler zu schreiben ... eine Stütze der Gesellschaft, so durfte man wohl sagen, gerade erst in seine Heimatstadt zurückgekehrt nach einigen Jahren im Ausland (an der spanischen Sonnenküste unter gleichgesinnten Steuerspekulanten, doch das mußte man in diesem Zusammenhang ja nicht erwähnen), Frau und zwei erwachsene Kinder hinterlassend, achtundfünfzig Jahre alt, aber immer noch in der Blüte seiner Jahre, ganz zweifellos.
Die schwere Abendluft schlug ihm wie ein Angebot entgegen, und er blieb zögernd in der Tür stehen.
    Wäre doch keine schlechte Idee, noch eine Runde über den Fischmarkt und durchs Hafengebiet zu machen!
    Was hatte er um diese Zeit schon zu Hause zu erwarten? Das Bild von Gretes schwerem Körper stieg in seinem Kopf auf, und der süßliche Schlafzimmergeruch kam ihm in den Sinn, und er entschied sich für einen kleinen Spaziergang. Nur einen kleinen. Schon allein die laue Nachtluft war die Mühe wert, auch wenn er nichts finden würde.
    Er überquerte die Lange Straße und bog zur Bungeskirche ab. Im gleichen Moment löste sich der Schatten seines Mörders aus dem Dunkel unter den Linden im Leisnerpark und nahm die Verfolgung auf. Still und vorsichtig... in sicherem Abstand und auf Gummisohlen. Das war der dritte Versuch heute abend, noch hatte er sich im Griff. Er wußte, welche Aufgabe er sich gestellt hatte, und das letzte, was ihm in den Sinn gekommen wäre, war, übereifrig zu reagieren.
    Simmel ging weiter die Hoistraat entlang und die Treppen hinunter zum Hafen. Am Fischmarkt wurde er
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