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Mädchen im Moor

Mädchen im Moor

Titel: Mädchen im Moor
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Wenn eine ›Neue‹ kam, herrschte begreiflicherweise große Aufregung. Zwar wußte man die festgesetzten Tage – Dienstag und Freitag – der Einlieferung, aber es geschah nicht jede Woche und nicht einmal jeden Monat, daß der unscheinbare, grünlackierte Wagen über den Zufahrtsweg hüpfte und durch die mit Wasser gefüllten Schlaglöcher schlitterte.
    »Heute kommt eine«, hatte die Oberaufseherin von Block II, Julie Spange, gesagt … nicht laut, sondern ganz beiläufig, beim Blankputzen der Melkeimer, die glänzen mußten wie ein Spiegel. Und Käthe Wollop hatte über den Rand des Eimers hinweggesehen und zurückgefragt: »Wer denn?«
    Sie hatte keine Antwort bekommen, Julie Spange war weitergegangen und überließ es dem geflüsterten Nachrichtendienst, die Neuigkeit zu verbreiten. Es war ein Freitag, morgens acht Uhr dreiundzwanzig. Ein grauer, nebelverhangener, kalter, feuchter Dezembertag. Von den Birken und Holunderbüschen, den Weiden und Krüppelkiefern tropfte die Nässe. Heide, Himmel und Moor waren eins, ein aufgequollener Sauerteig. Um elf Uhr würde also der kleine, grüne Wagen kommen, das kannte man schon. Er kam immer zwischen elf und halb zwölf, denn gegen sieben Uhr fuhr er vom Gefängnis weg und brauchte ungefähr vier Stunden von der Stadt bis zum Moor. Zum letztenmal war er vor vier Monaten gekommen und hatte eine ganz Vornehme gebracht. Vivian v. Rothen, Fabrikantentochter mit einem Jahr Jugendstrafe wegen Trunkenheit am Steuer, Fahren ohne Führerschein und fahrlässiger Tötung. Man hatte im Block II einen Monat gebraucht, bis aus Fräulein v. Rothen der Kumpel Vivi geworden war, ein schweres Stück Arbeit, das Hilde Marchinski – drei Jahre Jugendstrafe – mit den philosophischen Worten umriß: »Wer mit uns pennt, muß auch im Dreck liegen können … aber Dreck wärmt!«
    Und nun kam eine ›Neue‹. Sie kam von draußen, aus der Freiheit, aus dem heißen Leben, aus der Sehnsucht durchwachter Nächte, aus den Armen eines Mannes, die jetzt zu wilden Träumen wurden. Für ein paar Stunden würde sie einen Hauch von Wirklichkeit mitbringen, sie würde erzählen und man würde fragen können … und es würde Streit geben, das wußte man im voraus, Streit mit der stämmigen Barbara vom Block I, die sich an jede Neueinlieferung heranmachte und sie fragte, ob sie ihre Freundin werden wolle. Sie stand sich gut mit der Küchenleiterin Emilie Gumpertz, und wer Barbaras Angebote annahm, konnte sicher sein, gut verpflegt zu werden.
    Um elf Uhr – Zimmer 4 und 6 vom Block II hatte Stalldienst – hockte Hilde Marchinski auf einer Futterkrippe und sah durch das Fenster auf die im Nebel wie ein riesiger Regenwurm wirkende Chaussee.
    »Alles tot«, sagte sie und kratzte sich am Oberschenkel. »Ist ja klar … bei der Suppe draußen brauchen die heute länger … Was wollen wir wetten, Kinder: Ist's eine von uns oder solch vornehmes Luder wie die Vivi?«
    »Ich bin nicht vornehm!« rief Vivian aus einer Box. Sie schichtete vermistetes Stroh auf den Gang.
    »Jetzt nicht mehr, nachdem wir dir den Hintern mit Mennige angestrichen haben!« Hilde Marchinski hielt sich am eisernen Fensterrahmen fest und sah seitlich hinaus. »Die Kronberg kommt mit dem Doktor Röhrig.« Sie lachte rauh und drehte das breite Gesicht zu den anderen, die unter ihr im Stroh standen und zu ihr hinaufstarrten. »Wie heißen Sie, bitte deutlich!« machte sie Sprechweise und Bewegungen des Anstaltsarztes Dr. Röhrig nach. »Welche Krankheiten hatten Sie? Masern, Röteln, Scharlach, Diphtherie, Tripper, Syphilis? Hatten Sie schon Verkehr?« Hilde Marchinski schob die Unterlippe vor. »Und was habe ich geantwortet, Kinder? ›Mit Ihnen, Herr Doktor, hätt' ich'n gern –!‹«
    »Quatsch nicht so dusselig. Guck, ob das Auto kommt!« schrie Käthe Wollop. »Wenn es in'n Hof rollt – alle raus mit den Mistkarren. Und wenn der junge Wachtmeister wieder mitkommt, heb ich wieder 'n Rock hoch. Mein Gott, was ist der damals rot geworden!«
    »Sie sind da!« Hilde Marchinski sprang von der Futterkrippe. »Ich hab die Nebellichter gesehen.«
    »An die Mistkarren!« kommandierte Käthe Wollop.
    Die Erregung wuchs, man sah es an den Augen, an den fahrigen Bewegungen der Hände, an dem Zittern der Lippen und dem Klopfen der Halsschlagader.
    Eine ›Neue‹ kam … ein Hauch von Freiheit.
    Das ›Gut Wildmoor‹ war ein neu erbautes Experiment, das einige fortschrittliche Juristen durchgesetzt hatten. In langen Vorträgen, die von Beweisen
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