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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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Sonnentag
    Es blutet und blutet. Und weil diese Kinder – da mitten in meinem Sommer! – noch allesamt mit starken Augen geschlagen sind, so lange, bis ihnen die aufstrebenden Götter, bis ihnen der kleine Schrecken des Sex und das Schwarzweiß des Fernsehens den Blick lindern werden, sieht der Ältere Bruder das Blut von der Ferse auf den Asphalt tropfen, als liefe ihm eine Wabe seiner Seele aus. Noch tut es nicht weh. Unter der Saugglocke des Schocks spürt er nicht einmal, wie heiß der Granit des Bordsteins an seinen Ellenbogen bereits ist. Weicher als Bärendreck, weicher als die Lakritze, die er allen anderen Süßigkeiten vorzieht, wird der Teer der Fugen in den nächsten Stunden werden. Am Glanz kann man ihm dieses Erweichen schon ansehen. Bald lässt er sich ganz leicht aus seiner Rille heben und schwärzt die Hornhaut der Sohlen auf eine besonders nachhaltige Weise, wenn man barfuß in ihn tritt. Zwischen zwei Lidschlägen stellt sich der Ältere Bruder beides vor, das Herauspulen wie die klebrigen Flecken, kippt dann auf den Rücken, staunt ohne Eile über das Knallblau des Himmels, bis er den Oberkörper wieder aufrichtet, um sich die blutige Angelegenheit erneut genau anzuschauen, als ein Ganzes und in allen Einzelheiten: seinen rechten Fuß, der noch immer nicht schmerzt, obwohl ihn die rostigen Drähte so gründlich aufgefleischt haben.
    Den Anhub des Missgeschicks hatte er in einem merkwürdigen Zusammenkrampfen im Bauch gespürt, tief unten, woes sonst eigentlich nie etwas zu spüren gibt. Aber es blieb ihm keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn er rannte schon neben dem anrollenden Wolfskopf her, eine Hand an der brüchigen Sattelkante, stieß nur noch einmal die Luft aus, bevor er auf den Gepäckträger des alten Damenfahrrads sprang, um mit Wolfskopf den drei anderen hinterherzujagen. Das erste Stück den Kreuztöterweg hinunter ist sein Ritt auf dem wackeligen Geiger von Wolfskopfs Mutter, die Finger unter den stramm gespannten Lederhosenträgern des Freundes, dann halb prickelig, halb mulmig in der Schwebe geblieben. Erst hinter dem Schaufenster von Tabak-Geistmann, genau dort, wo Lebensmittel-Vetterle und die Sparkasse aneinanderstoßen, gerade als der Wolfskopf den Hintern vom Sattel hob, um mit seinem ganzen Gewicht in die Pedale zu steigen, zog es unserem großen Bruder die rechte Ferse hinein in die sausenden Speichen.
    Auch für den Wolfskopf kam ihr Sturz in Wahrheit nicht überraschend. Gleich sechs frische Bieruntersetzer hatte der schon früh am Morgen hinter die rostroten Stahldrähte des Hinter- und des Vorderrades geklemmt, weil er ein Unheil, irgendein Mordspech herannahen spürte. Alle sechs Pappdeckel waren, wie man den Gegenzauber machen muss, dreimal bespuckt worden, und jedes Mal hatte Wolfskopf den Speichel sorgfältig zu einem Kreuz mit vier gleich langen Balken verschmiert. Nun hat es doch nicht geholfen. Am Abend wird sich sein Vater, der unten am Rosenhang im Gaswerk arbeitet, das lädierte Hinterrad kopfschüttelnd anschauen und seinem Wolfgang noch eine zweite, nicht mehr allzu kräftige Ohrfeige geben, wird dann die zwei sauber gebliebenen und die eine blutig braune Scheibe aus den verbogenen Speichen rupfen und sich zusammen mit seinemdurch die doppelte Bestrafung hinreichend entschuldeten Sohn sogleich an die Reparatur des Vehikels machen.
    Jetzt im Mittagslicht tragen der Wolfskopf, der Schniefer, der Ami-Michi und die Schicke Sybille den Älteren Bruder schräg über die Einkaufsstraße der Neuen Siedlung. Der starke Wolfskopf hat die Hände unter die Kniekehlen des Verletzten geschoben. Der ist für sein Alter nicht gerade groß und ein rechtes Leichtgewicht. Dennoch kämen seine Freunde nie auf die Idee, ihn für zu klein oder für zu dünn zu halten. Nun, da das Blut aus ihm heraustropft und etwas Anderes, etwas Unsichtbares und Dichteres in ihn hineinströmt, tragen sie so schwer an ihm, dass sie keuchen. Aber weil auch das momentane Missgeschick, wie all das kommende Unglück meines Sommers, mit dem Gold des Günstigen verunreinigt ist, haben sie es nicht weit. Schon ruckt ihnen das weiße Emaille des Praxisschildes mit jedem Schritt ein mutmachendes Stückchen entgegen.
    Morgen, am zweiten Tag der großen Ferien, wird der Schniefer keck auftrumpfend behaupten, der Ältere Bruder habe absichtlich erst vor der Sparkasse den Fuß in die Fahrradspeichen gefädelt, weil am nächsten Eck der einzige Arzt der Siedlung, der alte Doktor Junghanns, seine Praxis
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