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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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über den Hüften und über dem nach vorn gedrückten Bäuchlein. Auf diesen Bildern, die noch in der Drogerie Schümer ihre Abholung erwarten, ist das Kleid zum letzten Mal in Weiß und Grau zu sehen. Im Herbst wird Annabett Böhm für alle siebenundzwanzig Filme, die ihrnoch zum Verknipsen bleiben, also für den Rest ihrer Ewigkeit, zum Farbfilm übergehen. Dann wird das Blassgeblümte ihrer Sybille bereits endgültig zu eng geworden sein. Obwohl es noch so gut wie neu ist, wird sich Sybilles kleine Schwester im kommenden Sommer weigern, auch nur zur Probe hineinzuschlüpfen. Ihr Sträuben wird sie damit begründen, dass der Stoff nach Sybille rieche. Die schöne und energische Annabett Böhm wird ihrer jüngeren Tochter erst freundlich zureden, dann mit ihr schimpfen und es schließlich mit dem kochend heiß gewaschenen und perfekt gebügelten Baumwollkleid ein weiteres Mal, erneut ohne Erfolg, probieren.
    Ich sehe dieses Kleid, ich sehe sämtliche Blümchen in Farbe so gut wie in Schwarzweiß. Dergleichen bis in den kleinsten Fitzelkram, bis in die zarteste Schattierung oder ins feinste Farbenspiel hinein zu erkennen und wiederzuerkennen, fällt mir babyleicht. Ich weiß, dass die Schwester unserer Schicken Sybille im Recht sein wird. Ich weiß, wonach die aufgedruckten Blüten auch doppelt ausgelaugt noch riechen werden. Schon jetzt, in den Sonnen- und Regentagen meines Sommers, kann man es erschnuppern. Wer seine Nase in die Falten des geblümten Kleides drückt und sich dann wie ein Tier, wie Hund, Katz, Marder oder Bär, dem Schnüffeln überlässt, darf riechen, dass der Schicken Sybille unter dem festen Kleinmädchenspeck nichts Geringeres als ein Busen schwillt.

Sonnentag
    Geschickt und geschwind, ohne ein einziges Mal auch nur anzustupsen, hat die Mutter das geschiente Bein durch die vier unumgänglichen Türrahmen hinausbugsiert. Der Ältere Bruder hätte nicht gedacht, dass sie ihn noch immer ruckzuck hochheben und wie ein kleines Kind auf ihren Armen durch die Wohnung und durch das Treppenhaus ins Freie tragen kann. Draußen hat sie ihn vor dem Küchenfenster mitten auf der Wiese abgesetzt, direkt neben der niedrigen, breiten Karre, die so wuchtig dasteht, als würde sie sein Gebrachtwerden bereits erwarten. Jetzt kitzeln ihn die Grashalme, die im Schatten des Wohnblocks länger morgenfeucht bleiben, in der nackten linken Kniekehle, und während er beobachtet, wie eine schwarze Ameise, die Fühler schlenkernd, über den glatten cremefarbenen Vollgummi des rechten Hinterrades irrt, schämt sich unser großer Bruder für beides, für seine Leichtigkeit und für die Fehleinschätzung der mütterlichen Stärke.
    Natürlich hat er den kugeligen, aus weißgebeizter Weide geflochtenen Korpus des alten Kinderwagens sogleich erkannt, hat auch sofort gesehen, dass ihm sein Dach abhandengekommen ist, aber noch immer begreift er nicht, wozu das enthauptete Gefährt nun gut sein soll. Der Schraubenzieher und die rostige Zange, die die Mutter zusammen mit einem kleinen Hammer und einer Schachtel Nägel als ihr Hausfrauenwerkzeug sonst in der Küchentischschubladeverwahrt, liegen zwischen den Gänseblümchen. Und auch das Blechkännchen mit dem Nähmaschinenöl war offenbar im Einsatz. Vergeblich versucht der Ältere Bruder sich vorzustellen, wie sie in aller Frühe damit zugange war, während er und die Zwillinge drinnen in den Betten lagen. Nach einer unruhigen, an blutigen Träumen reichen Nacht hat er zuletzt bloß noch dösend phantasiert, hat sich mühsam vom Rücken auf die Seite gewälzt, sich wegen der dann heftig lospulsenden Schmerzen wieder zurückgedreht und den Gedanken, dass er es wie im Josephinium auch zu Hause nicht allein aufs Klo schaffen würde, erneut im Dämmer des Halbschlafs versenkt.
    Der Kinderwagen hat, mit einer alten Tischdecke vor Staub geschützt, die letzten Jahre auf dem Dachboden gestanden. Unser großer Bruder weiß, das extrabreite Modell mit den dickbereiften Rädern wurde gebraucht erstanden, nachdem Doktor Junghanns der Mutter offenbart hatte, dass aus ihrem Bauch mit unbezweifelbarer Sicherheit ein doppelter Herzschlag herauszuhören sei. Monate später soll sie dann mit dem letzten Kraftquäntchen, das ihr die Arbeit des Gebärens gelassen hatte, «Oje, noch so ein Zipfelchen!» gerufen haben, als die Hebamme den zweiten der Witzigen Zwillinge vor ihren Augen in die Höhe stemmte. So hat sie es immer wieder neu erzählt und den Brüdern, dem großen wie den beiden kleinen,
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