Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
Vom Netzwerk:
jeder den Kürzeren gezogen und musste das Witzehören ermattet aufgeben, bevor die Zwillinge mit ihrem Vermögen an ein Ende gelangt wären. Gewiss würden sich die beiden über eine Handvoll neuer Witze freuen und sie bei nächster Gelegenheit auf ihre besondere Art zum Vortrag bringen. Aber obwohl er sich sein ganzes Josephinium genau gemerkt hat, vom schwimmbeckenblauen Ölfarbenanstrich der Notaufnahme bis zum Geruch der Lederliege, auf der das Fleisch seines Fußes gereinigt und wieder richtig zusammengenäht worden ist, wollen unserem großen Bruder die Eröffnungen der meisten Witze, in denen ja die ganze folgende Lustigkeit schon wie in einem Keim enthalten ist, partout nicht mehr in den Sinn kommen.
    Im Fuß tobt die südamerikanische Schlacht. Und weil er endlich sicher herauszuspüren glaubt, dass die wollig runden Bienchen die Brutkammern ihres Zuhauses samt der süßen Fülle ihrer Vorräte erfolgreich gegen die kalte Gier der getigerten Hornissen verteidigen werden, weil er erleichtert ahnt, dass ihre furchtbaren Verluste zuletzt mit dem erlösenden Allglanz des Sieges abgeglichen werden können, wird derÄltere Bruder nun trotz der Schmerzen schläfrig. Die Augen gehen ihm zu, sofort hört er besser, und schließlich sieht er ganz klar, wie sich das Gesäusel des Küchenradios vor dem Türschlitz schlankmacht und sich als ein honiggelbes Band zu ihm hereinschlängelt. Dem Klang entgegenschlüpfend, hat er im Nu auch das Gerät selbst vor Augen. Heute, am Tag des Unfalls, ist sein Furnier frisch mit Möbelpflege eingerieben worden. Unser großer Bruder erkennt den Geruch: Es ist die dunkle, die zuckerrübensirupfarbene Politur, die die Mutter außer für ihr kleines Frisiertischchen im Schlafzimmer nur für das Radio nimmt. Gegen dessen Lautsprecherbespannung, gegen den schwarzen, mit goldenen Fäden durchwirkten Stoff, presst sich nun von innen, aus der Tiefe des Apparats, das Gesicht von Professor Felsenbrecher. Denn wenn er Feierabend hat, das leuchtet dem Älteren Bruder sogleich ein, erzählt der Herr Professor seine Witze im Rundfunk. Ungeheuer lustig sieht es aus, wie Felsenbrechers Nase ein Zelt macht, wie dessen Spitze weit über die perlmuttfarbenen Tasten für Ultrakurz-, Kurz-, Mittel- und Langwelle hinausragt, wie der Trichter, den die Lippen aus der Lautsprecherbespannung herausstülpen, beständig Tiefe und Form verändert. Es ist ein Neger-im-Urwald-Witz, den der Professor gerade zum Besten gibt: Kannibalen haben den alten Doktor Junghanns aus seinem Urwaldhospital entführt und kochen ihn in einem großen eisernen Topf über offenem Feuer. «An mir ist leider nicht mehr viel dran!», gibt der Arzt zu bedenken und hebt entschuldigend die großen, schaurig knochigen Hände. «Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Lieber!», tröstet ihn der Kannibalenkoch und taucht einen riesigen Löffel ins dampfende Wasser. «Als Fleischeinlage, als alter Suppenhahn bist du uns fett genug!»
     
    Und ich? Mir reicht die Stärke meines Süppchens gleichfalls aus! Wohltemperiert schwappt es um mich herum. Ich plustere meine Winzigkeit, denke mir schöne volle Lippen, stülpe sie wie ein Fisch ins warme Nass und imitiere auf meine altkluge Manier nacheinander das Lachen der Freunde unseres großen Bruders, zuletzt das Glucksen, das aus dem Körper der Schicken Sybille tönt, wenn sie den Schlussknall eines Witzes nahen fühlt. Sybille gluckst im Voraus, weil sie tief in der Kehle spürt, dass es erzkomisch werden wird. Sie spürt es, schon bevor die Zwillinge sich noch einmal im Weitererzählen abwechseln, um alles mit einem letzten, langgezogenen Bogen und dann mit einem allerletzten, scharf geschlagenen Haken auf den Punkt zu bringen. Sybille gluckst so gut. Sybille hat einen schönen Klang am Leibe. Als der Wolfskopf sie heute Morgen zwischen den Heckklappen des Krankenwagens festhielt, um sie am Einsteigen zu hindern, bekam er nicht nur ihren Rockbund, sondern auch den Gummi ihres Schlüpfersaums zu fassen. Kurz haben Wolfskopf, der Ami-Michi und der Schniefer nicht nur das sonnengebräunte Hohlkreuz, sondern auch die blitzweißen Pobacken ihrer Freundin sehen dürfen.
    Die Schicke Sybille ist gerade so dick, dass sich alles an ihr gleich angenehm, gleich gefällig rundet. Auf den Fotos, die ihre Mutter erst kürzlich, an ihrem elftem Geburtstag, im Hof zwischen dem erbsengrünen und dem kanariengelben Block von ihr geschossen hat, spannt sich ihr schönstes, das weiße, feingeblümte Kleid
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher