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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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bewundert sie hierfür. Und er denkt, gerade weil ihm seine kleinen Brüder leidtun, dass er, wenn er eine Mutter sein könnte, seine Söhne genauso unerbittlich zu allem zwingen würde, von dessen Richtigkeit er überzeugt ist.
    Der Wolfskopf und der Schniefer, der Ami-Michi und die Schicke Sybille sind Schulter an Schulter vor den Doppelkinderwagen getreten und schauen sich stumm das Bein an. Der Ältere Bruder ist nach vorn gerutscht, die untere Kante der Schiene liegt im Gras. Weil es ihm schwerfällt, stillzusitzen, hat er sich schon einen grünen Schmierer in das Weiß des Verbands gerieben. Er sieht, wie tapfer seine Freunde mit der drohenden Erschlaffung ihrer Mienen, mit dem Ausdruck endgültiger Enttäuschung kämpfen. Das ganze ungeheure Imperium der Sommerferien liegt vor ihnen. Sie ahnen alle, nur noch einmal, ein letztes und deshalb besonderes Mal darf sich die Grenze dieses Reichs hinter einem Horizont aus weißgolden gleißendem Sonnenlicht verlieren. Danach, im Herbst, wird einer der großen Gelenk-Omnibusse, die die kleineren Kinder Ziehharmonikabusse nennen und die im Frühjahr die letzten Fahrzeuge mit Anhänger ersetzten, den Älteren Bruder jeden Schultag, also sechsmal die Woche, aus der Siedlung hinein in die Stadt, ins Gymnasium verschleppen.Seine Freunde, die in der Volksschule bleiben dürfen, sorgen sich sehr um ihn. Kein Kind des Hofes ist bisher auf ein Gymnasium gegangen. Obwohl sie allesamt so gut wie nichts über dieses andersartige Unterrichtsgehäuse wissen, rechnet jeder für sich, dem Klang des Wortes folgend, auf eine zwingend dunkle Weise mit dem Schlimmsten.
    Er muss jetzt Zeit gewinnen. Also greift er sich in die rechte Kniekehle, schwenkt das steife Bein in die Höhe, legt es auf den Rand des Wagens. Dann weist er den Wolfskopf an, die Bremsen zu lösen. Als der nicht gleich kapiert, was damit gemeint ist, springt ihm Sybille bei und tritt auf die beiden Blechklappen, die bis jetzt die Vorderräder blockiert haben und nun, weil die Mutter sie mit reichlich Nähmaschinenöl geschmiert hat, bereitwillig nach unten schnappen. «Ab zum Spielplatz!», lautet die Parole des Älteren Bruders. Schon sind die drei Jungen hinter ihn getreten, drängeln sich an der Stange und schieben ihn auf den Teer des Zufahrtswegs hinaus. Die Kinder nennen den Weg nur «die Runde», vielleicht, weil er zwischen den beiden Wohnblöcken wie vor den Rängen einer kleinen, aber maximal steilen Arena seine ovale Bahn zieht. Frau Böhm, die gerade ihr Küchenfenster putzt, und die Mutter des Ami-Michi, die vis-à-vis im gelben Block die Federbetten in die Sonne hängt, sind Zeuge, wie der Zwillingskinderwagen Fahrt aufnimmt. «Mit Karacho!», befiehlt der Ältere Bruder, und der Wolfskopf, der Schniefer und der Ami-Michi bringen die frisch geölten Kugellager zum Surren.
    Die Schicke Sybille aber bleibt noch ein klitzekleines Momentchen stehen. Sie trägt ihr Drachenkleid, das so heißt, weil sein Himbeerrot mit vielen großen Drachen bedruckt ist, aus deren grinsenden Mäulern orange Flammen züngeln.Durch den dünnen Stoff, durch den Schuppe für Schuppe aufgedruckten Panzer eines großen grünen Drachen kratzt sie sich heftig am Po und presst dabei die Augen zu. Sybilles untere Lider ähneln den prallen Lippen der Negerpuppe, mit der sie nun schon den dritten Sommer nicht mehr spielt, die sie aber dennoch nicht gewillt ist, an ihre kleine Schwester abzugeben. Ein ganzes weiteres Jahr noch wird dieses schwarze Baby mit starrem Blick, mit kreisrund offenem Schnullermund und gespreizten Beinen auf dem Kleiderschrank ausharren müssen. Sybille blinzelt, und unter ihren Wimpern glitzert die Befriedigung darüber, dass weder der gewaltige weiße Verband, noch der blutig vernähte Fuß, der sich darunter verbirgt, unseren großen Bruder daran hindern konnten, den Ton des Tages anzugeben.
    Auf dem Weg den Drosselgrund hinunter treffen sie ein halbes Dutzend Mütter und mehr als doppelt so viele Kinder. Der Ältere Bruder schweigt, wenn man ihn nach seinem Bein fragt, weist nur mit dem Daumen über seine Schulter auf den Wolfskopf, der ihren gemeinsamen Unfall so tollpatschig, wie es ihm aus dem Mund kommt, erzählen darf. Bis hinter die Doppeltür des Rotkreuz-Kombis und dann auch noch in die Notaufnahme hinein lässt unser großer Bruder ihn gewähren. Erst den Professor Felsenbrecher übernimmt er selbst. Er macht ihn größer als groß. Er malt die Nase, die an den Wunden schnuppert, fleischwurstfarben und
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