Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
Vom Netzwerk:
lässt die Wangen des Professors, sobald er über die eigenen Witze lacht, beben wie Wackelpudding, wenn man diesen aus seiner Schüssel auf einen Teller stürzt. Der Ältere Bruder sieht, dass es nicht nur die Kinder, sondern weit mehr noch die mitfühlenden Frauen erquickt und erleichtert, den mächtigen Hautvernäher recht komisch geschildert zu bekommen.Damit die aufgehellten Mienen ungetrübt bleiben, verschweigt er, dass es während des professoralen Gelächters immer besonders scheußlich wehgetan hat, weil die Felsenbrecher-Finger den Faden dann schlimm ruckelig durch seine Ferse zogen.
    Als sie an der alten Nagelbuche auf den Kiesweg in den Spielplatz abbiegen, scheint ihm dessen Gelände aus dem von der niederen Karre erzwungenen Blickwinkel groß wie nie zuvor. Hundert, nein tausend Kinder könnten hier auf diesen riesigen Wiesen und im Dickicht der Hecken, die sie säumen, ihre Spiele spielen, viel mehr Buben und Mädchen, als es in der Neuen Siedlung gibt, doch zusammen mit zwei Knirpsen, die schon im vorderen der beiden Sandkästen wühlen, sind er und seine Freunde an diesem Vormittag die Einzigen, die diesen ungeheuren Freiraum nutzen. An den Kettenschaukeln und an den Wippen vorbei lässt sich unser großer Bruder bis zur Turnstangen-Bank kutschieren. Deren grünlich verfärbtes Holz macht zwar Flecken in die Hosen und Kleider, aber von allen Bänken ist sie am schönsten zugewachsen. Schatten ist jetzt wichtig. Während die Jungen den Kinderwagen gut festhalten, schiebt er zunächst das geschiente Bein auf die Bank und schafft es dann, sich ganz hinaufzuziehen. Sybille hat indessen an der mittleren der drei stufenförmig aufsteigenden Querstangen zu turnen angefangen. Kopfüber hängt sie am Eisen, holt mit dem Rücken und den Armen Schwung und schaukelt. Und so wird, verborgen unter ihren dicken braunen Knien, die Stange, auf der sich, befördert vom Tau, ein Hauch von frischem Rost gebildet hat, nach und nach wieder stahlblank gewienert. Ihre Finger ziehen Rillen durch den Sand, der Saum des Drachenkleids hängt bis an ihre Nasenspitze, sie hat die Augen zu, als müssesie sich ganz auf das Hin und Her, auf das Vor- und Zurückpendeln konzentrieren.
    «Erzähl schon!», sagt sie schließlich, und es klingt merkwürdig dumpf, vielleicht weil ihr der Magen gegen die Lungen drückt. Dann streicht sie das Drachenkleid nach oben, klemmt es zwischen die Oberschenkel und verschränkt die Arme vor der Brust, als wollte sie die ganze kommende Geschichte so hängen bleiben, obwohl ihr Gesicht schon von der Stirn bis an die Wangen, die die Schwerkraft komisch verbeult, dunkelrot angelaufen ist. Der Wolfskopf und der Schniefer haben sich rechts und links vom Älteren Bruder auf die Außenkanten der Bank gesetzt. Das wehe Bein beansprucht den meisten Platz. Mit gesenkten Lidern, so brav und aufmerksam, wie sie es in der Schule nie und nimmer sein könnten, warten sie, dass er mit einer Geschichte anfängt. Der Ami-Michi hat im Kinderwagen Platz genommen. Jetzt lehnt er sich zurück, wälzt sich auf die Seite, krümmt den Rücken und zieht die nackten Knie bis an den unteren Rand der Kissen. Der Ältere Bruder aber hebt den Kopf und guckt über die Büsche und Baumspitzen in den weißbetupften Himmel.
    Er weiß nicht, dass man das gesamte Gehölz erst im Geburtsjahr der Neuen Siedlung, das auch sein Geburtsjahr ist, auf einer weiten Heuwiese und einem breiten Streifen Acker angepflanzt hat. Wild sind seitdem nur ein paar Ahornbäumchen im Unterholz und am Rand des Gebüschs hinzugekommen. Die Eschen ragen am höchsten. Wie die Spitzen von Masten piksen sie ins weiche, noch nicht von der kommenden Hitze ausgehärtete Blau, und damit ist unserem Älteren Bruder offenbar, dass er für seine Freunde heute als Erstes eine Piratengeschichte erfinden wird. Weil ihm derFuß von der Kletterei auf die Bank wieder schlimm wehtut, fängt er mit einem Kapitän an, der nicht nur auf einem, wie man es aus anderen Geschichten zur Genüge kennt, sondern gleich auf zwei Holzbeinen über die Planken seines Schiffes stakst. Er nennt ihn Kommandant Silber, flicht ihm einen langen Zopf aus seidigem, silbrig grauem Haar, lobt dessen Glanz, fädelt seltene schwarze Perlen und gelochte Münzen in die prächtige Frisur, weil er weiß, dies wird Sybille gefallen, und lässt ihn erst dann in wüsten Flüchen beklagen, dass ihm seine Unterschenkel von einer besonders tückischen, pechschwarzen Kanonenkugel gemeinsam weggeschossen worden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher