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Tod eines Tenors

Tod eines Tenors

Titel: Tod eines Tenors
Autoren: Rhys Bowen
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1. KAPITEL
    Die junge Frau kaute sich nervös auf den Lippen herum, als sie den Pass hinauffuhr. Sie war keine sehr erfahrene Fahrerin - nur komplette Dummköpfe oder Masochisten fuhren in London oder Mailand Auto. Zudem schien der Mietwagen für die schmalen walisischen Gebirgsstraßen irgendwie viel zu breit zu sein. Der ganze Weg von der Küste herauf war flankiert von Felswänden auf der einen und steilen Abhängen auf der anderen Seite. Einmal war ihr ein Bus entgegengekommen, der die ganze Straße gebraucht hatte, um die Haarnadelkurve zu nehmen.
    Dabei war sie auch ohne die Risiken einer ungewohnten Straße nervös genug. Was tue ich hier eigentlich? Es war ihr so einfach erschienen, als sie auf dem Londoner Flughafen gelandet war und den Wagen gemietet hatte. Er würde glücklich sein, sie zu sehen, und alles würde gut werden. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher.
    Die Gipfel der Berge waren in Wolken gehüllt, die sich hin und wieder teilten und atemberaubende Blicke auf Felsvorsprünge freigaben, mit Wasserfällen wie schimmernde Faltenwürfe, und auf hochgelegene grüne Weiden, von denen sich Schafe als kleine weiße Punkte abhoben. Durch das offene Autofenster konnte sie das Geräusch fließenden Wassers hören und das entfernte Blöken der Schafe. Die Luft roch grün und frisch. Für jemanden, der in einem vornehmen Londoner Vorort aufgewachsen war, eine völlig unvertraute Landschaft, und sie sah sich ehrfürchtig um. Was konnte ihn bewogen haben, hierher kommen zu wollen?
    Gerade als die Straße von den Wolken verschluckt zu werden schien, kam ein Dorf in Sicht. Sie verlangsamte ihre Fahrt und fuhr im Schritttempo die einzige Straße hinauf. Es war ein einfaches, kleines Dorf, zwei Reihen weißgetünchter Cottages aus Stein, einige Läden, eine Benzinzapfsäule und ein freundlich wirkender Pub, dessen Schild mit der Aufschrift Red Dragon im Wind schaukelte. Sie hielt an und klappte ihre Straßenkarte auf. Das konnte nicht der richtige Ort sein. Sie las die Schilder einer Geschäftszeile: R. EVANS, MOLKEREIPRODUKTE, G. EVANS, CIGYDD - in schmaleren Buchstaben stand in Klammern der Zusatz »Metzger« - und T. HARRIS, GEMISCHTWARENLADEN, dahinter in kleinerer Schrift POSTNEBENSTELLE, LLANFAIR.
    Sie war also doch richtig. Sie wusste, dass Llanfair ein ziemlich verbreiteter walisischer Dorfname war, genau wie St. Mary. Auf über ein Dutzend solcher Llanfairs war sie gestoßen, als sie die Landkarte von Wales durchforstet hatte. Aber nur ein einziges Llanfair lag in der Nähe des Passes neben dem Mount Snowdon, dem höchsten Berg von Wales. Das musste es also sein.
    Die junge Frau schüttelte ungläubig den Kopf. Dies war so gar nicht nach seinem Geschmack. Sie konnte ihn sich in einem dieser kleinen Cottages einfach nicht vorstellen. Schließlich war er eine Fünf-Sterne- Persönlichkeit: Nizza, Portofino, Beverly Hills - das waren die Orte, an denen sie erwartet hatte, ihn zu finden.
    Sie fuhr weiter die Straße hinauf, an der wegen der Sommerferien verwaisten Schule vorbei, und erreichte zwei Kapellen, die einander an der engen Straße gegenüberlagen. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen - beide waren graue, fast schmucklose Schieferbauten mit zwei hohen, schmalen Fenstern. Eine Tafel an der Kapelle links von ihr verkündete: CHAPEL BETHEL, REVEREND PARRY
    DAVIES. An der rechten stand: CHAPEL BEULAH, REVEREND POWELLJONES.
    Die beiden Kapellen waren fast die letzten Gebäude des Dorfs, und sie hielt den Wagen an. Neben der Bethel-Kapelle stand lediglich ein einfaches Steinhaus, auf dem ausgedehnten Grundstück hinter der Beulah-Kapelle war dagegen ein viel größeres Haus gebaut worden. Es hatte Giebel, war in Schwarzweiß gehalten und mit Unmengen viktorianischer Zierelemente versehen. Das Mädchen betrachtete es zweifelnd, dann streifte ihr Blick weiter zum Pass hoch, wo Straße und Wolken zusammentrafen. Auf einem Hang thronte ein riesiges, prunkvolles Gebäude, eine Art überdimensioniertes Schweizer Chalet mit geschnitzten Holzbalkonen und Geranienkästen vor den Fenstern. Dieser Anblick - wie das Gebäude so plötzlich auf einem kargen, walisischen Hügel aus den Wolken auftauchte - einen Augenblick war sie nicht sicher, ob sie Halluzinationen habe. Unwillkürlich musste sie an Walt Disneys Fantasiewelten denken. Ein adrettes Holzschild neben der Straße verhieß: WILLKOMMEN. EVEREST RESTAURANT, FITNESS-CLUB. RÄUMLICHKEITEN FÜR SPA.
    Sie stellte den Motor ab und stieg aus. Stille.
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