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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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seien. Keinen einzigen Tag hätten ihn die ehemaligen unteren Hälften seiner Beine seitdem nicht geschmerzt. Mit gutem Recht! Wer wäre nicht gleich seinen verflossenen Zehen, seinen einstigen Fersen, seinen Waden und Schienbeinknochen auf ewig verbittert, wenn er von einem bösen Moment auf den anderen nicht mehr mit dem lebenslustigen Rest, mit Bauch, Brust, Nase und Haar durch Sonne, Luft und Wind über die Planken der Tage stapfen dürfte.
     
    Kanonenkugelschnell zurück, heim in die leibeigene Welt, dorthin, wo alle Schmerzen säuberlich separat, Körper für Körper, auszuhalten sind, befördert unsere Kinder erst wieder das Auftauchen des Kikki-Manns. Der Kikki-Mann kommt nie verkehrt. Auch jetzt nehmen die Freunde sein Gespür für den richtigen Augenblick so sinngläubig hin wie andere Geschenke ihrer Sommer, wie das Loch im Maschendraht, das genau dort klafft, wo man auf die verbotene Seite hinüberschlüpfen will, wie die Münze, die einem fünf Schritte vor dem Kaugummi-Automaten aus dem Straßendreck entgegenglänzt. Blind und stumpf für das Talent desKikki-Manns sind dagegen fast alle Erwachsenen. Nur die Mutter hat einmal gesagt, sie verstehe nicht, wie es einem Taubstummen gelingen könne, bei Tabak-Geistmann am Freitagabend, im Gedrängel vor der Lotto-Theke, im wirklich rappelvollen Laden, genau dann seine kieksende Stimme zu erheben, wenn das Gemurmel kurz verebbt sei und es einen der raren Momente allgemeinen Stillseins gebe.
    Jetzt hüpft der Kikki-Mann, just als der Ältere Bruder das Piraten-Abenteuer abgeschlossen hat, wie ein sehr großer und nervöser Vogel, vom zweiten Sandkasten des Spielplatzes, wo er schon ausgiebig zu den Kleinen gesprochen hat, an ihre Bank herüber. So, wie es sich für eine gute Geschichte gehört, hat das Ganze wieder auf dem Fundament des Anfangs Fuß gefasst. Die Lösung des Geheimnisses, das gesuchte Medaillon mit dem Bild des verschollenen Mädchens, ist die ganze Zeit im linken, hohlen Holzbein des Kapitäns verborgen gewesen. Leider hat unseren großen Bruder unter dem Triumphbogen der Spannung, als der Schniefer mit offenem Mund die Luft anhielt und die Schicke Sybille beide Fäuste zwischen die Oberschenkel presste, wieder einmal die übliche Versuchung, die schlimme, schlimme Sucht gepackt. Außer dem Medaillon, das alle Ungewissheit aufhob und den dinglichen Beweis bedeutete, der noch zum endgültigen Sieg der Guten über die Bösen fehlte, hat er seinen Helden, der, erst jetzt kam es ans Licht, gar kein Schiffsjunge ist, sondern die verkleidete, einst als winziges Kindchen entführte Tochter des Admirals, noch einen merkwürdig geformten und mit uralten Diamanten verzierten Schlüssel in der Höhlung der anderen, der rechten Prothese entdecken lassen.
    Prompt hat der Schniefer das frische hellblaue Taschentuch, das ihm seine Mutter jeden Morgen in die Hosentaschesteckt, herausgeholt und putzt sich damit noch immer übertrieben gründlich die Nasenlöcher. Dies tut er nur, wenn ihn ein Erwachsener ernstlich dazu ermahnt, wenn irgendeine Angst in Schach gehalten werden muss oder aber, wenn er sich, schnaubend und reibend, aufrafft, einen Erwachsenen um etwas anzugehen. Nun, da er die Geschichte vom Medaillon vollendet hat, gehört der Ältere Bruder für den Schniefer zu denen, die etwas gewähren können, wie ein Lehrer, der die ganze Klasse zehn üppige Minuten früher in die mittagshelle Freiheit abziehen lässt, wie eine Ladenbesitzerin, die mit dem Rückgeld zwei Bonbons über die Theke schiebt, oder wie dieser eine seltsam rare Onkel, den man nur an Omas Geburtstag und an Weihnachten zu sehen bekommt und der einem einfach so, bevor er erneut verschwindet, schnell noch die größte aller Münzen zusteckt, diejenige, die als Einzige so superschwer in der Hand liegt, wie es einst die Dukaten vermochten, von denen eben noch die Rede ging. Gleich wird der Schniefer durch die rotgeputzte Nase schnupfen, und dann wird er unseren großen Bruder auch im Namen der anderen bitten, gleich mit der Geschichte weiterzumachen, die mit all ihren Verwicklungen hinter dem geheimnisvollen Schlüssel und seinen Schnörkeln verborgen liegen muss.
    «Dü! Dü! Dü!», jodelt der Kikki-Mann und wedelt mit seinem einmalig langen und dürren Zeigefinger vorwurfsvoll vor der Nase des Älteren Bruders. Alles am Kikki-Mann ist lang und dünn. Die Zwillinge haben Frau Böhm einmal zur Mutter sagen hören, eigentlich sei der Taubstumme ein mehr als passabler, ein sogar ziemlich
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