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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit
Autoren: Georg Klein
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gut aussehender Vertreter seines Geschlechts, aber durch seine schaurige Magerkeit und durch die schrille Höhe seiner Stimme würde sein Mann-Sein doppelt durchgestrichen. Jetzt denken die Buben,der Kikki-Mann unterstelle dem Älteren Bruder, selbst an der Versehrung seines Fußes schuld zu sein, und tadle ihn dafür. Nur die Schicke Sybille ahnt, dass er den Schlüssel meint, den unser großer Bruder eben im letzten Überschwang in das zweite Holzbein des Piraten hineinerzählt hat. Das «Dü! Dü! Dü!» will wie das Pendeln des nikotingelben Zeigefingernagels sagen: Treib es mir nicht zu weit, mein Lieber!
    Dann zündet sich der Kikki-Mann eine Filterzigarette an und erzählt ihnen selbst etwas. Es geht wie meistens, wenn er zu anderen Menschen spricht, um seine Vögel, um die Wellensittiche und Kanarienvögel, die er züchtet. Irgendwann im Verlauf seiner Geschichten beginnt er immer, ihren Gesang nachzumachen, und was er durch spitzen Mund hinausflötet, ähnelt wirklich Kanarienvogelgezwitscher oder Sittichgeschrei, nur dass der Taubstumme wie beim Sprechen die Tonhöhe verfehlt und selbst den schönsten Triller zuletzt ins Quietschige verzieht. Die Freunde nicken und sagen «Ja, ja!», «Ach, was?» und altklug «Schön, sehr schön!», so wie sie es den Erwachsenen abgehorcht haben, die nicht anders als ihre Kinder zumeist nur einen Bruchteil der Erzählungen des Kikki-Manns verstehen. Vorhin allerdings, am Sandkasten, ist ein Knirps aus dem Loch, das er sich zum Hinheinhocken gewühlt hatte, aufgestanden, hat stehend noch ein Weilchen zugehört, dann mit der Spitze seiner Blechschippe an das linke Knie des Kikki-Manns getippt und zu ihm gesagt: «Du musst richtig sprechen, sonst lernen es deine Wellensittiche genauso verkehrt, wie du es ihnen vormachst!»
    Der Ältere Bruder versteht den Taubstummen am besten, wenn er dessen Lippen fixiert, und noch ein Quäntchen besser, wenn er ihm von unten in den auf- und zuschnappenden Mund hineinlinst. Das geht meist gut, denn der Taubstummeklappt die Kiefer redend weiter auseinander als die, denen ein Gehör geschenkt ist. Günstig wirkt sich auch aus, dass ihm oben der linke der mittleren Schneidezähne fehlt, der offenbar, zumindest täuscht dies die Lücke vor, noch ein wenig breiter gewesen sein muss als der rechte, der erst später, der erst in den letzten Tagen meines Sommers, ausgeschlagen werden wird. Oben am Gaumen des Kikki-Manns glaubt unser großer Bruder jetzt das einsilbige Wörtchen «tot» zu erkennen. «Püsst üüf, sünst üst üünür vün üüch büld tüt!», flötet der Vogelzüchter. Und der Wolfskopf, der nur diesen einen Satz verstanden hat, lacht und schüttelt seine blonde Mähne, weil er das für einen prima Witz hält, weil er heute Nacht von knöcheltiefen Blutpfützen, von abgerissenen Füßen und abgebissenen Händen geträumt hat und weil er sich jetzt, im milden Vormittagslicht, von Herzen darüber freut, dass ihr Fahrradunfall nicht schlimmer ausgegangen ist.
     
    Schlimm bin ich auch. Allein schon, weil ich nie wegsehen kann, bin ich ein schlimmes Früchtchen. Zuletzt, am Ende unseres Sommers, gucke ich mir buchstäblich die Augen aus dem Kopf. Und vorgestern, an einem Sonnentag wie heute, habe ich mir breit und bunt angesehen, wie Sybille mit ihrer Mutter, der schönen, schwarzgelockten Annabett Böhm, den Kikki-Mann im vorletzten Wohnblock besuchen ging. Der letzte und der vorletzte, der weiße und der türkise Block bilden den bösen Hof. Auf dessen Rundweg sollten die Braven, also die Mädchen und Jungen der drei vorderen Häuser, sich besser nicht ohne den Begleitschutz eines Erwachsenen, am besten gar nicht blicken lassen. So sieht es auch Sybilles Mutter. Aber ihre jüngere Tochter wünscht sich einen Wellensittich zum Geburtstag, und obwohl sichdie beiden Schwestern täglich in die Haare kriegen, zweifelte Frau Böhm nicht daran, dass nur Sybille in der Lage sein würde, den Wellensittich auszugucken, der vom buckligen Schnabel bis in den Glanz der Schwanzfedern der Herzenssehnsucht ihres Schwesterchens entspricht. So kam es zum Besuch beim Kikki-Mann, der nicht bloß im schlimmen türkisen Block wohnt, sondern auch noch im dritten Eingang, wo links und rechts, hinter insgesamt drei Türen, die Huhlenhäusler hausen.
    Schon im Hausflur roch es überwürzig aus den Wohnungen heraus, die der Sippe von der Stadt zugewiesen worden sind. Es heißt, die Huhlenhäusler seien seit Generationen Landfahrer gewesen. Wie die Zigeuner,
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