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Schäfers Qualen

Schäfers Qualen

Titel: Schäfers Qualen
Autoren: G Haderer
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1
    Er achtete nicht auf das schrille Piepsen der Multifunktionsuhr, die ihm mitteilte, dass sein Herz über 125-mal pro Minute schlug. Das Gipfelkreuz war in Sicht; und die letzten hundert Meter verdienten diese Anstrengung.
    Bislang war es ein makelloser Tag gewesen. Als er seinen Geländewagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte, war kein weiteres Fahrzeug dort gestanden, und auch auf dem Weg hinauf war er niemandem begegnet; abgesehen von ein paar schlaftrunkenen Kühen, die im taunassen Gras standen, noch so lethargisch, dass ihre Glocken nur vereinzelt zu hören waren. Zu seiner Rechten rauschte der Bach, der den Graben im Sommer angenehm kühl hielt. Nach einer halben Stunde war der geschotterte Fahrweg zu Ende. Ab hier führte ein schmaler Wanderweg über steile Almwiesen zum Grat hinauf, der sich fast drei Kilometer, dafür nur sanft ansteigend, zum Gipfel zog. Noch lagen die Wiesen im Schatten, doch über die Bergkette im Osten schob sich bereits der gleißende Scheitel der Sonne und in zwei Stunden würde es auf dem unbeschatteten Weg sehr heiß werden. Früher hatte Steiner die Hitze gemocht. War stundenlang in der prallen Sonne unterwegs gewesen. Doch mittlerweile setzte sie seinem Kreislauf zu und er suchte den Schatten, wo es nur ging. Das war jedoch nicht der einzige Grund, warum er sich am Abend vor einer Bergtour den Wecker auf fünf Uhr stellte. Er wollte der Erste am Gipfel sein, und er wollte so wenigen Menschen wie möglich begegnen. An Wochenenden standen die Chancen dafür schlecht. Zu viele Wanderer, und vor allem zu viele Junge, die eine Stunde nach ihm losgehen konnten und dennoch vor ihm oben waren. Simon Steiner war sechzig, für sein Alter außergewöhnlich gut in Form und gestand sich seine nachlassende Körperkraft umso widerwilliger ein.
    Doch an diesem Tag hatte er nichts auszusetzen. Mit vom Schweiß brennenden Augen wanderte er über den Grat zum Karstein. Aus dem trockenen, fast kniehohen Gras sprangen Insekten an seinen Waden hoch und zwangen ihn immer wieder dazu, sich leicht zu bücken und nach ihnen zu schlagen. Die Sonne blendete ihn mittlerweile so stark, dass er nur auf den schmalen, steinigen Weg vor ihm blickte. Nun, wegen des Panoramas kam er ohnehin nicht herauf – daran hatte er sich schon längst sattgesehen. Er sah in sich hinein. Und manche Bilder und Gedanken ließen sich besser ertragen, während der Körper an der Grenze der Belastbarkeit war. Sie hatten ihn lange in Ruhe gelassen. Warum drängten sie in letzter Zeit so an die Oberfläche? Warum ängstigten sie ihn so sehr, dass er schon an Verfolgungswahn zu leiden begann? Fast dreißig Jahre später.
    Auf dem letzten Stück zum Gipfel hob er den Blick und blieb erschrocken stehen. Da lehnte jemand mit dem Rücken zu ihm am Gipfelkreuz. Wer war werktags so früh am Berg? In den meisten Fällen Leistungssportler, die ihr Trainingspensum vor der Arbeit absolvierten und nur kurz heroben blieben. Er ging weiter. Als er ein paar Meter vom Gipfelkreuz entfernt war, drehte sich der andere um. Steiner grüßte und hielt sich die Hand an die Stirn, um sein Gegenüber erkennen zu können. Er sah einen Arm, der ausholte, in der Hand die Umrisse eines Eispickels. Dann nichts mehr.

2
    Schäfer saß an seinem Schreibtisch, das Kinn auf die rechte Hand gestützt, und schob Münzen über das graue Furnier der Tischplatte. Die Zwei-Euro-Münze für den Schwager, das EinEuro-Stück für die Ehefrau, die verschiedenen Centmünzen für Personen, die mit dem Verbrechen als Betroffene, Zeugen oder Informanten in Beziehung standen. Sich selbst hatte der Major als kanadische Ein-Dollar-Münze platziert – wegen des Ahornblatts, der Sehnsucht nach einem fremden, freundlichen Land, oder um sich Distanz zur Tat zu schaffen – das war Schäfer selbst nicht mehr klar. Bergmann sah seinem Chef über den Bildschirm hinweg missmutig zu. Lange Zeit hatte er versucht, hinter die Systematik dieses Spiels zu kommen. Was, wenn nicht diese mystische Schieberei konnte die Erfolgsquote seines Vorgesetzten erklären? Gewissenhaftigkeit? Ehrgeiz? Intelligenz? Daran mochte Bergmann nicht glauben, zumal der Major selten etwas davon erkennen ließ. Also die Münzen. Also nächtelange Simulationsversuche am Computer, wie nebenbei gestellte Fragen, Blicke über Schäfers Schultern, wenn Bergmann eine Akte aus dem Schrank holte. Schließlich hatte er resigniert. Und fand sich damit ab, dass die über den Schreibtisch wandernden Münzen nur ein Molekül im
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