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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition)
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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DIE BEGEGNUNG
    Sie trafen sich nachts.
    Über ihnen zahllose ferne, unbewegliche Sterne. Unter ihnen die dunklen Felsen der Falaise , die die Grenzen der Welt beschützten wie ein riesiges schlafendes Tier. Ein leichter Windhauch wiegte das grüne Meer aus Grashalmen in der Ebene hin und her und brachte es zum Raunen.
    Auf dem höchsten Punkt eines Astes saß ein Falke mit einer weißen Halskrause und starrte forschend in die Dunkelheit. Seine flinken Augen beobachteten jede Bewegung der Grashalme auf der Suche nach Beute, doch er hielt seinen Kopf mit dem Hakenschnabel schief, und man sah ihm seinen Zweifel an: Dies war weder eine Nacht für die Jagd noch für die Jäger.
    Und er behielt recht. Als der Wind auffrischte, neigten sich die Halme weiter dem Boden zu. Der Falke nahm eine Bewegung wahr: Ein abgemagerter Schakal kletterte eine Ansammlung bläulich schimmernder Steinbrocken hoch, die sich über einer Lichtung erhob. Als er oben war, blieb auch er reglos sitzen, da ihn der gleiche Zweifel überfiel wie den Falken.
    Er hatte zwei Männer bemerkt, die zu beiden Seiten der Lichtung standen.
    Und zwei Jungen, die sich im Gras versteckt hielten.

    Die beiden Männer standen einander dort Angesicht zu Angesicht gegenüber, aufrecht und feierlich wie zwei aus Holz geschnitzte Statuen.
    Der eine war groß und wirkte majestätisch.
    Sein Gesicht war so zerknittert wie das einer Mumie. Er trug einen nachtblauen Umhang. Unter seiner Kleidung blitzten Goldmünzen und winzige Glasfläschchen hervor, die er an seinem Gürtel befestigt hatte und die bei jeder Bewegung leicht klirrten. An den Füßen hatte er rabenschwarze weiche Lederpantoffeln mit eingerollter Spitze. Er hielt die mit Ringen geschmückten Hände vor der Brust verschränkt.
    Der andere Mann war zwar kleiner, doch sein nackter muskulöser Oberkörper ließ ihn kräftiger wirken. Seine weißen Hosen, die am Unterschenkel eng anlagen und zur Hüfte hin weit wurden, waren aus dem gleichen rauen Stoff wie die Segel der Boote, die von Zeit zu Zeit den Niger befuhren. Er war schwarz, hatte seine dunkle Haut anscheinend in aller Eile mit roter Farbe bemalt und trug um den Hals eine schwere Kette aus geschnitzten Bernsteinstücken.
    Und er war barfuß.
    »Nun bist du doch allein gekommen«, ergriff der Mann mit dem blauen Umhang das Wort.
    »Nein, du bist es, der allein ist«, erwiderte der Barfüßige und umklammerte dabei mit der Hand seine Bernsteinkette. »Wie in den vergangenen fünf Jahren.«
    »Lass mich vorbei, Geschichtensänger.«
    »Und was wirst du sonst tun … wie lässt du dich jetzt noch nennen? Fürst?«
    »Einen anderen Namen habe ich nicht.«
    Dann hob der Mann mit dem blauen Umhang die Hände vors Gesicht. Als er die Finger spreizte, vernahm man ein Geräusch wie von brechenden Knochen. Finstere Worte drangen aus seinem Mund.
    Die beiden Kinder duckten sich ins Gras.

    Als sie wieder hochschauten, hatten sich zwischen den Fingern des Mannes lange, schwarze Fäden gebildet, die wie Stränge aus grober Wolle wirkten.
    Ein furchterregender Anblick, doch der Geschichtensänger lächelte nur und fragte: »Ist das alles, was deine Macht vermag?«
    Dann holte er tief Atem und berührte dabei die Kette um seinen Hals.
    Und er begann, zu singen.
    Die beiden Jungen begriffen, dass damit der Kampf begonnen hatte.
    Sie legten die Hände vor die Augen und spähten nur ab und zu verstohlen durch die Finger, um sich, wenn sie die Furcht überwältigte, wieder hinter den hohen Grashalmen zu verstecken.
    Der Fürst warf ganze Knäuel von zusammengerollten schwarzen Schlangen gegen den Geschichtensänger, die er mit seiner peitschenden Stimme lenkte, während der wiederum durch seinen Gesang um sich herum rote Löwen, schimmernde Eidechsen und Adler mit weißem Gefieder enstehen ließ. Dunkle Tentakel und Tiere in allen Farben kämpften gegeneinander und bewegten sich nach den Lauten ihrer Schöpfer. Sie verschlangen einander und drängten den Gegner zurück, verknäuelten sich ineinander und entfernten sich dann wieder auf den Schwingen des Windes.
    Der Mann mit dem blauen Umhang benutzte seine Zunge wie eine Peitsche, und seine Augen blitzten blendend weiß auf. Sein barfüßiger Gegner sang eine sanfte Melodie und klatschte dazu in die Hände, was sich anhörte, als schlüge er eine Trommel, und vermehrte dadurch das Heer seiner in tausend Farben schimmernden Tiere.
    Die beiden Männer umkreisten einander, ohne sich je aus den Augen zu verlieren, zunächst
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