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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition)
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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komisch war.
    »Hast du etwas gefunden?«
    »Nein, nichts«, sagte er und sah sie mit seinen kohlschwarzen Augen an. »Und jetzt weiß ich nicht, was wir Ogoibélou sagen sollen.«
    Rokia lächelte. Ihr Bruder war neun, zwei Jahre jünger als sie, aber schon genauso groß. Einige beobachteten mit Misstrauen, dass er so schnell wuchs, vor allem Serou, der als zweitältester Sohn der Familie in ihm einen möglichen Konkurrenten sah. Doch im Gegensatz zu seinen beiden älteren Brüdern war Inogo auch freundlich und höflich. Er träumte davon, später ein großer Jäger zu werden, und jedes Mal, wenn aus dem Kamin des Schmieds unterhalb der Felsen Rauch aufstieg, rannte er dorthin, um die brennende Glut und die Funken des Eisens auf dem Amboss zu beobachten.
    »Ihr erzählt ihm einfach, dass Serou allein daran schuld ist«, riet ihm Rokia ein wenig boshaft. »Er hat euch schließlich dazu gebracht, euch in den Wind zu stellen. Und er hat Aotyé mitgenommen. Ein Dummkopf wie der genügt schon, um die beste Jagd zu verderben.«
    Inogo nickte, während er darüber nachdachte. »Glaubst du nicht, dass Serou dann wütend wird, Schwester?«
    »Natürlich wird er das. Aber mehr kann er sowieso nicht tun.«
    »Und wenn mich Ogoibélou dann noch einmal an diesen Felsen hängt?«
    Rokia musste wieder lächeln.
    Vor ein paar Monaten hatten Ogoibélou und einige Freunde fünf von den kleinsten Jungen genommen und sie mit dem Kopf nach unten wie Fledermäuse an einem Felsen aufgehängt. Und dann hatten sie ihnen befohlen, sie sollten nicht schreien, und behauptet, es handele sich um eine Prüfung, die man bestehen müsse, um erwachsen zu werden.
    Zum Pech für Ogoibélou und seine Freunde hatten ihr Großvater und der Hogon des Dorfes den Streich entdeckt, die Kinder befreit und ihn und die anderen Schuldigen bis ins Togu-na vor den Rat der Weisen geschleppt, damit sie ihre Strafe erhielten.
    »Es ist Jahre her«, hatte einer der Ältesten gesagt, »dass im Dorf etwas so Unsinniges geschehen ist.«
    »Unsere Traditionen verfallen«, hatte ein anderer gemeint.
    »Und mit ihnen unsere jungen Leute«, hatten die Alten geschlossen.
    Die Weisen hatten entschieden, dass die Transistorradios und die schlechten Worte, die dadurch ins Dorf gelangten, schuld seien, dass sie immer weiter verdummten. Deshalb hatten sie Ogoibélou und seinen Freunden befohlen, vierzehn Tage in absoluter Abgeschiedenheit zu verbringen. Zwei Wochen sollten sie im heißen, sandigen Wüstenwind sitzen und schweigend nachdenken, damit sie wenigstens etwas von ihrer Würde wiedererlangten. Nur einigen Frauen war es gestattet, ihnen ein wenig Wasser und Nahrung zu bringen.
    Und so hatte der Streich geendet.
    Später, als es an Rokia war, ihre Mutter mit dem Korb voll Brot und dem wassergefüllten Canarì zu begleiten, hatte ihr Bruder zuerst so getan, als sähe er sie nicht, um zu zeigen, dass er sich über sie und seine Strafe erhaben fühlte. Doch schließlich hatte er sie boshaft gefragt: »Warst du das, hast du es Großvater verraten?«
    »Nein«, hatte Rokia geantwortet.
    Doch tief in seinem Herzen hatte ihr Ogoibélou das nie geglaubt.

    »Die Fledermaus!«, rief Rokia plötzlich. Als sie sich an den Streich erinnerte, kam ihr wieder in den Sinn, was sie in jener Nacht geträumt hatte. »Entschuldige, Bruder, aber ich muss schnell zu Großvater.«
    Mit raschelnden Gewändern rannte sie an ihm vorbei ins Dorf, und auf ihrem Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln. Sie musste ihrem Großvater etwas Wichtiges mitteilen. Und zwar gleich, sonst würde sie es vergessen.
    Nachdem Rokia das Tor zum Baobab mit seinen imponierenden Türflügeln, die an die Palisade gelehnt waren, hinter sich gelassen hatte, überlegte sie, welchen Weg sie einschlagen sollte. Am schnellsten ginge es direkt über den Hauptplatz am Togu-na der Ältesten und an der Hütte des Hogon vorbei und dann durch ein Gewirr von mit hohen Ziegelsteinmauern umgebenen Gassen. Doch Rokia wollte dem Hogon lieber nicht begegnen und vermied es deshalb, dort entlangzugehen. Stattdessen bog sie nach links ab und kam an Frau Karembés Hühnergehege vorbei, wo wie jeden Tag die Hennen über den Zaun geflattert waren und sich über die Straße verteilten. Nachdem sie Frau Karembé Bescheid gesagt hatte, wandte sich Rokia wieder nach links, bis sie direkt vor der Felswand stand. Über ihr erhob sich die Falaise in blendend weißem Licht, das jede Felsspalte hervortreten ließ. Hier und da standen kegelförmige
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