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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben
Autoren: Kim Wright
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Kapitel 1
    Es war gar nicht vorgesehen, dass ich neben ihm sitze. Das war ein reiner Glücksfall.
     
    Es ist der letzte Sonntag im August, und ich bin wegen einer Töpfereiausstellung in Phoenix. Ich habe einen Preis für meine Glasuren bekommen und siebzehn Objekte verkauft, folglich geht es mir gut. Am Morgen des Abreisetags mache ich eine Wanderung in einen Canyon hinter meinem Hotel. Arizona ist trügerisch. Morgens ist es kühl, weshalb der Aufstieg bis zum Ende des Pfads kein Problem darstellt, doch schon eine Stunde später, wenn die Sonne ganz aufgegangen ist und man sich den gewundenen Weg hinuntermüht, spürt man ein Pochen unter der Schädeldecke und erinnert sich daran, dass das hier nicht der Osten ist, sondern der Westen, wo es vorkommt, dass Menschen in der Hitze sterben. Als ich wieder unten ankomme, ist mir so schwindlig, dass ich in der Empfangshalle des Hotels meinen Kopf unter einen Trinkwasserbrunnen halte und mir das Wasser über den Nacken laufen lasse, bis ich wieder richtig sehen kann.
    Ich fahre zum Flughafen, liefere meinen Mietwagen ab, begebe mich durch die Sicherheitskontrolle, rufe zu Hause an, esse einen Burrito und schleife mein Handgepäck zum Flugzeug. Neben mir auf 18A sitzt ein Mann mit starkem Akzent, der sofort anfängt, mir zu erklären, dass sein Sohn
allein auf 29D festsäße und so gut wie kein Englisch spräche. Und würde es mir etwas ausmachen, den Sitz mit dem Jungen zu tauschen? 29D ist ein Scheißplatz, fast ganz hinten und in der Mitte einer Reihe. Ich möchte nicht tauschen. Meine Bluse ist voller Burritosoßeflecken, und meine Haare sind nach der Wäsche in einem Trinkwasserbrunnen zu einer ziemlich schrägen Frisur getrocknet. Mir ist heiß, ich bin müde, und ich will einfach nur nach Hause. Doch als Tory klein war, habe ich bei Flügen ständig Fremde um Hilfe gebeten, und die meisten von ihnen haben freundlich reagiert. Also sage ich, na klar, schiebe meine Illustrierte in meine Tasche und trotte in den hinteren Teil der Maschine.
    Wie sich herausstellt, ist das fragliche Kind dreißig Jahre alt. Ich zeige ihm meine Bordkarte, deute auf seine und sage »Papa, Papa«, aber sein Vater hat nicht gelogen: Er spricht kein Wort Englisch. Alle, die sich in der Nähe der neunundzwanzigsten Reihe des Flugzeugs aufhalten, mischen sich in das Geschehen ein, und aus irgendeinem seltsamen Grund fängt die Flugbegleiterin an, Französisch zu sprechen. Wir sind schon fast startklar, als er endlich aufsteht und sich zu Papa in den vorderen Teil der Maschine begibt. Ich krabbele über den Kerl auf Platz 29C, lasse mich in meinen Sitz fallen und denke noch: Das hier ist eine der Situationen, in denen man bereut, dass man das Richtige tun wollte, doch da täusche ich mich. Es ist eine der Situationen, in denen das Karma schneller eine Kehrtwendung hinlegt als ein Bumerang.
    Der Mann, der neben mir auf 29E sitzt, sagt: »Das war nett von Ihnen.«
    Er ist groß, so groß, dass er sich leicht schräg auf seinen Platz gesetzt hat. Seine Knie berühren geradeso die Grenze zu meinem Platz. Ich frage ihn, warum er in Arizona wäre,
und er antwortet, er habe eine Klettertour gemacht. Er ist Investmentbanker, er geht am Wochenende klettern. Er fliegt nicht gern.
    Er dreht sich auf seinem Sitz noch ein klein wenig mehr zu mir, und ich drehe mich ein klein wenig mehr zu ihm. Ich sage, dass es mir seltsam erscheine, wenn jemand, der auf Berge klettern kann, Angst vorm Fliegen hat, doch er schüttelt den Kopf. Es sei eine Frage der Kontrolle, behauptet er und erzählt mir von seinem schlimmsten Klettererlebnis. Vor Jahren, als er gerade mit diesem Sport angefangen hatte, fand er sich in einer Zweierseilschaft mit einem Typen wieder, der die Karabiner nicht richtig befestigte, etwas löste sich und beide rutschten ab. Es gäbe nichts Schlimmeres, sagt er, als die Bergwand schon halb erklommen zu haben, um dann jenseits des Umkehrpunkts feststellen zu müssen, dass auf den anderen kein Verlass sei. Ich frage ihn, was der Umkehrpunkt sei, und er erklärt, dass es bei jeder Bergtour eine Stelle gäbe, ab der es gefährlicher sei umzukehren, als weiterzuklettern. Ich nicke. Mir scheint, das hätte ich wissen müssen.
    Er fragt mich, ob ich verheiratet sei, und ich sage ja, seit neun Jahren.
    »Neun Jahre«, wiederholt er langsam, als besäße die Zahl als solche eine Art Macht. »Neun ist irgendwie in der Mitte.« Eigentlich habe ich nicht das Gefühl, mich in der Mitte meiner Ehe zu befinden,
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